Sturz der Titanen
schändlichen, dummen Krieg heraus. Maud war froh, dass es noch Menschen gab, die genauso dachten wie sie. Doch die Kriegsgegner hatten keine Chance.
Sanderson kam mit einem Umschlag auf einem silbernen Tablett. Erschrocken erkannte Maud die Handschrift Walters. Was dachte sich Sanderson dabei, dieses dumme Ding? Hatte sie nicht begriffen, dass die Antwort auf eine geheime Nachricht ebenfalls geheim sein musste?
Maud konnte Walters Brief unmöglich in Fitz’ Beisein lesen. Mit gespielter Gleichgültigkeit, aber pochendem Herzen nahm sie ihn entgegen, legte ihn neben ihren Teller und bat Grout, ihr Kaffee nachzuschenken.
Um ihre Panik zu verbergen, blätterte sie in der Zeitung. Fitz zensierte ihre Post zwar nicht, hatte als Familienoberhaupt aber das Recht, jeden Brief zu lesen, der an eine weibliche Verwandte adressiert war, die in seinem Haus lebte. Keine achtbare Frau hätte etwas dagegen eingewendet.
Sie musste das Frühstück so rasch wie möglich beenden und den Brief ungeöffnet mitnehmen. Maud versuchte ein Stück Toast zu essen und zwang die Krümel ihre trockene Kehle hinunter.
Fitz blickte von der Times auf. »Liest du deinen Brief nicht?«, fragte er und fügte zu ihrem Entsetzen hinzu: »Sieht aus wie von Ulrichs Schrift.«
Ihr blieb keine Wahl. Sie öffnete das Kuvert mit einem sauberen Buttermesser und bemühte sich, eine unbeteiligte Miene zu wahren.
Geliebte!
Man hat allen Botschaftsangehörigen befohlen, ihre Sachen zu packen, die Rechnungen zu begleichen und sich bereitzuhalten, Großbritannien binnen weniger Stunden zu verlassen.
Du und ich, wir sollten niemanden in unseren Plan einweihen. Noch heute Nacht muss ich zurück in mein Heimatland, und Du wirst hier bleiben und bei Deinem Bruder wohnen. Alle sind sich einig, dass der Krieg nur wenige Wochen, höchstens ein paar Monate dauern wird. Sobald er zu Ende ist und wir dann noch leben, werden wir der Welt unsere frohe Botschaft verkünden und unser neues gemeinsames Leben beginnen.
Und nur für den Fall, dass wir den Krieg nicht überleben – lass uns bitte, bitte eine glückliche Nacht als Mann und Frau verbringen!
Ich liebe Dich.
W.
P. S.: Deutschland ist vor einer Stunde in Belgien einmarschiert.
Mauds Gedanken überschlugen sich. Eine geheime Heirat! Niemand würde davon wissen. Walters Vorgesetzte würden ihm nach wie vor vertrauen, wenn sie nicht von seiner Ehe mit der Bürgerin eines verfeindeten Landes erfuhren. Er könnte kämpfen, wie seine Ehre es verlangte, und sogar im Geheimdienst arbeiten. Dass ihr viele Männer weiterhin den Hof machen würden, weil sie sie für unverheiratet hielten, machte Maud nichts aus: Sie zeigte ihren Verehrern schon seit Jahren die kalte Schulter. Bis zum Kriegsende würden sie und Walter getrennt leben, aber das waren ja nur ein paar Monate.
Fitz riss sie aus ihren Gedanken. »Was schreibt er denn?«
Maud wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie konnte, durfte Fitz nichts sagen. Was sollte sie ihm antworten? Sie schaute auf den Bogen aus schwerem, cremefarbenem Papier mit der steilen Handschrift und erblickte das Postskriptum. »Dass die Deutschen heute um acht Uhr morgens in Belgien einmarschiert sind.«
Fitz legte die Gabel hin. »Das war es dann also.« Ausnahmsweise wirkte sogar er schockiert.
Tante Herm rief: »Das arme kleine Belgien! Ich glaube, die Deutschen sind ganz schreckliche Tyrannen.« Hastig fügte sie hinzu: »Außer Herrn von Ulrich natürlich. Der ist charmant.«
»So viel zur höflichen Anfrage unserer Regierung«, sagte Fitz.
»Das ist Irrsinn«, stieß Maud verzweifelt hervor. »Tausende von Menschen werden in einem Krieg getötet, den niemand will.«
»Ich dachte, du würdest den Krieg unterstützen«, sagte Fitz. »Immerhin werden wir Frankreich verteidigen, die einzige andere echte Demokratie in Europa. Und unsere Gegner werden Deutschland und Österreich sein, deren gewählte Parlamente praktisch ohne Einfluss sind.«
»Aber unser Verbündeter ist Russland«, erwiderte Maud verbittert, »und wir kämpfen, um die brutalste und rückständigste Monarchie in ganz Europa zu erhalten.«
»Ich verstehe, was du meinst.«
»In der deutschen Botschaft wurden alle angewiesen, ihre Sachen zu packen. Vielleicht sehen wir Walter nicht mehr wieder.« Beiläufig legte sie den Brief weg, doch ihr Versuch war nicht von Erfolg gekrönt.
»Darf ich mal sehen?«, fragte Fitz.
Maud erstarrte. Sie konnte ihm den Brief unmöglich zeigen. Er würde sie nicht bloß
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