Sturz der Titanen
anderen schwanger war, egal wie sehr er sie liebte. Es sei denn …
Mühsam krächzte Lew: »Sie muss das Kind doch nicht bekommen. Es gibt Ärzte in der Stadt …«
Vyalov schnappte sich die Knute wieder, und Lew duckte sich. »Denk nicht mal daran!«, brüllte Vyalov. »Das verstößt gegen Gottes Willen!«
Lew war erstaunt. Zwar fuhr er die Vyalovs jeden Sonntag zur Kirche, hatte bis jetzt aber geglaubt, sie wollten nur den Schein wahren. Schließlich war der Mann ein Verbrecher. Und nun reizte der bloße Gedanke an eine Abtreibung ihn bis aufs Blut, weil es seine religiösen Empfindungen verletzte. Seltsamerweise schien das bei Gewalt, Betrug und Erpressung nicht der Fall zu sein.
»Kannst du dir vorstellen, was für eine Demütigung das für mich ist?«, rief Vyalov. »Jede Zeitung der Stadt hat bereits über die Verlobung berichtet.« Er lief knallrot an und hob die Stimme zu einem Brüllen. »Was soll ich Senator Dewar sagen? Ich habe die Kirche schon gebucht! Ich habe das Büfett bestellt! Die Einladungen sind bereits in der Druckerei! Ich sehe schon Mrs. Dewar, diese arrogante alte Kuh, wie sie hinter ihrer faltigen Hand über mich lacht. Und das alles wegen eines Scheiß-Chauffeurs!«
Wieder hob er die Knute, doch anstatt zuzuschlagen, schleuderte er sie wütend zur Seite. »Ich kann dich nicht umbringen.« Er wandte sich Theo zu. »Bring das Stück Dreck zu einem Arzt«, befahl er. »Lass ihn zusammenflicken. Er wird meine Tochter heiraten.«
Kapitel 16
Juni 1916
»Können wir reden, Junge?«, fragte Billys Vater.
Billy war erstaunt. Fast zwei Jahre lang, seit er nicht mehr in die Bethesda-Kapelle kam, hatten sie kaum ein Wort miteinander gesprochen. In dem kleinen Haus in der Wellington Row hing immer Spannung in der Luft. Billy hatte beinahe vergessen, wie es war, leise Stimmen in der Küche reden und lachen zu hören, oder auch die lauten Stimmen während der leidenschaftlichen Streitereien, die sie früher oft ausgefochten hatten. Dass es dies alles nicht mehr gab, hatte sehr dazu beigetragen, dass Billy in die Army eingetreten war.
Nun aber klang Dah beinahe unterwürfig. Sorgsam musterte Billy das Gesicht seines Vaters, doch es lag keine Aggression darin, keine Herausforderung, nur eine Bitte.
Dennoch, Billy war nicht bereit, nach Dahs Pfeife zu tanzen. »Worüber reden?«, fragte er.
Dah öffnete den Mund zu einer scharfen Erwiderung, riss sich dann aber sichtlich zusammen. »Ich bin stolz gewesen«, sagte er. »Und Stolz ist eine Sünde. Vielleicht warst auch du stolz, Billy, aber das musst du selbst mit dem Herrgott abmachen, und es entschuldigt nicht mein Verhalten.«
»Hast du zwei Jahre gebraucht, um das zu begreifen?«
»Ich hätte noch länger gebraucht, wärst du nicht zur Armee gegangen.«
Billy und Tommy hatten sich im vergangenen Jahr freiwillig gemeldet und dabei geschwindelt, was ihr Alter anging. Sie waren dem 8. Bataillon der Welsh Rifles beigetreten, das als die »Aberowen Pals« bekannt war. Solche »Pals’ Battalions« waren eine neue Erfindung: Männer aus der gleichen Stadt kamen in die gleiche Einheit, wurden zusammen ausgebildet und gingen zusammen in den Kampf, an der Seite von Kameraden, mit denen sie aufgewachsen waren. Die Militärs versprachen sich davon eine Stärkung der Moral.
Billys »Pals« waren ein Jahr lang geschliffen worden, in einem neuen Ausbildungslager bei Cardiff. Billy hatte es Spaß gemacht. Die Ausbildung war einfacher als die Arbeit unter Tage und viel weniger gefährlich. Auch wenn es oft schrecklich langweilig gewesen war – ihre »Ausbildung« hatte oft darin bestanden, die Zeit totzuschlagen –, konnten sie Sport treiben, Spiele spielen und die Kameradschaft innerhalb einer Gruppe junger Männer erfahren. In einer der langen Phasen der Untätigkeit hatte Billy wahllos ein Buch in die Hand genommen und Shakespeares Macbeth gelesen. Zu seiner Überraschung fand er die Geschichte fesselnd und die Verse auf eigenartige Weise faszinierend. Einem jungen Mann wie ihm, der ungezählte Stunden damit verbracht hatte, das Englisch aus dem siebzehnten Jahrhundert zu verstehen, die Sprache der protestantischen Bibel, fiel Shakespeares Sprache nicht schwer. Mittlerweile hatte Billy das Gesamtwerk gelesen, manche Dramen sogar mehrmals.
Nun war die Ausbildung zu Ende, und die Pals hatten zwei Tage Urlaub bekommen, ehe es nach Frankreich gehen sollte. Dah sagte sich wohl, dass er Billy vielleicht zum letzten Mal lebend zu Gesicht bekam. Deshalb
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