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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Luft war mild, Vögel zwitscherten in den Bäumen. In einem Obstgarten in der Nähe, der dem Trommelfeuer bislang entgangen war, blühten tapfer die Apfelbäume. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine Artgenossen zu Millionen abschlachtet und das Land in eine Wüste aus Granattrichtern und Stacheldrahtverhauen verwandelt, dachte Walter düster und wälzte apokalyptische Gedanken. Gut möglich, dass das Menschengeschlecht sich selbst auslöschte und die Welt den Vögeln und Bäumen überließ. Vielleicht wäre es das Beste.
    Walter wandte sich wieder praktischen Dingen zu. Die überhöhte Position besaß viele Vorteile. Die Engländer mussten bergauf angreifen. Noch nützlicher war es, dass die Deutschen alles sehen konnten, was die Briten taten.
    Walter war sicher, dass sie einen Großangriff vorbereiteten. Ein solches Unterfangen ließ sich kaum verbergen. Monatelang hatten die Engländer die Straßen und Eisenbahngleise in diesem vormals verschlafenen Winkel des ländlichen Frankreichs ausgebaut. Jetzt nutzten sie diese neuen Nachschubwege, um Hunderte schwerer Geschütze, Tausende von Pferden und Zehntausende von Männern heranzuschaffen. Hinter den Linien spien Lastwagenkolonnen und lange Reihen von Eisenbahnwaggons unermüdlich Munitionskisten, Wasserfässer und Heuballen aus.
    Walter richtete seine Linsen auf eine Gruppe Fernmelder, die einen schmalen Graben aushoben und von einer großen Trommel etwas abrollten, bei dem es sich unverkennbar um Telefonkabel handelte. Sie müssen sich große Hoffnungen machen, überlegte Walter. Der Aufwand an Männern, Material und Mühe war gewaltig und konnte nur gerechtfertigt sein, wenn die Engländer sicher waren, zu einer kriegsentscheidenden Offensive anzutreten. Walter hoffte, dass sie recht hätten – so oder so.
    Wann immer er ins Feindesland blickte, dachte er an Maud. Das Bild, das er in seiner Brieftasche trug, hatte er aus dem Tatler ausgeschnitten. Es zeigte Maud in einem schlichten Ballkleid im Hotel Savoy; die Überschrift lautete: Lady Maud Fitzherbert, stets nach der neuesten Mode gekleidet. Walter vermutete, dass Maud im Moment nicht viel zum Tanzen kam. Er fragte sich, ob sie sich an den Kriegsanstrengungen beteiligte wie seine Schwester Greta in Berlin, die Schwerverwundeten in den Lazaretten kleine Pakete mit Leckereien brachte. Oder hatte sie sich wie seine Mutter aufs Land zurückgezogen und pflanzte auf ihren Blumenbeeten Kartoffeln, um der Lebensmittelknappheit entgegenzuwirken?
    Walter wusste nicht, ob auch in England die Lebensmittel knapp waren. Die deutsche Handelsflotte lag aufgrund der englischen Seeblockade in den Häfen fest, und seit fast zwei Jahren hatte Deutschland auf dem Seeweg keine Waren mehr erhalten. England hingegen erhielt nach wie vor Lieferungen aus Amerika. Deutsche U‑Boote griffen immer wieder den transatlantischen Schiffsverkehr an, aber die Seekriegsleitung verzichtete im Moment auf den uneingeschränkten U‑ Boot-Krieg, weil man befürchtete, dass die USA sonst in den Krieg eintraten. Aus allen diesen Gründen vermutete Walter, dass Maud nicht so hungrig war wie er. Außerdem erging es ihm als Soldat besser als der deutschen Zivilbevölkerung. In einigen Städten hatte es schon Streiks und Protestmärsche gegen die Lebensmittelknappheit gegeben.
    Walter hatte Maud nicht geschrieben, und sie nicht ihm. Zwischen Deutschland und England gab es keinen Postverkehr mehr. Nur wenn einer von ihnen in ein neutrales Land reiste – in die Vereinigten Staaten, zum Beispiel, oder nach Schweden –, konnte er von dort einen Brief schicken. Doch diese Gelegenheit hatte sich bislang weder ihm geboten noch Maud, wie es schien.
    Es war eine Tortur für Walter, nicht zu wissen, wie es ihr ging. Ihn quälte die Angst, sie könnte krank in einem Hospital liegen, ohne dass er etwas davon ahnte. Er sehnte das Ende des Krieges herbei, damit er zu ihr konnte. Natürlich wünschte er sich Deutschlands Sieg, doch bisweilen war es ihm beinahe egal gewesen, solange es nur Maud gut ging. Sein schlimmster Albtraum war, dass er nach Kriegsende nach London reiste und dort erfahren müsste, dass sie tot war.
    Er schob diesen schrecklichen Gedanken beiseite, senkte den Feldstecher, stellte die Optik auf nahe Entfernung und musterte die Stacheldrahtverhaue auf der deutschen Seite des Niemandslandes. Es gab zwei Sperrgürtel von je fünf Metern Tiefe. Der Draht war mit Eisenstangen fest im Boden verankert, sodass er kaum zu bewegen war. Er bildete

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