Sturz der Titanen
überwand er seinen Stolz und bat um eine Aussprache.
Billy blickte auf die Uhr. Er war nur in die Wellington Row gekommen, um sich von seiner Mutter zu verabschieden. Er hatte vor, seinen Urlaub in London zu verbringen, bei seiner Schwester Ethel und ihrer attraktiven Mieterin. Mildreds hübsches Gesicht, ihre roten Lippen und ihre Hasenzähne waren Billy lebhaft in Erinnerung geblieben, seit sie ihn damals mit der Bemerkung »Heilige Scheiße, du bist Billy?« schockiert hatte. Sein Tornister stand neben der Tür auf dem Boden, gepackt und reisefertig. Sein gesamter Shakespeare war darin. Am Bahnhof wartete Tommy.
»Ich muss den Zug kriegen«, sagte er.
»Es fahren genug Züge«, entgegnete Dah. »Setz dich, Billy … bitte.«
Es war Billy unangenehm, seinen Vater in dieser Stimmung zu erleben. Dah mochte selbstgerecht, überheblich und schroff sein, aber er war auch stark. Deshalb wollte Billy nicht mit ansehen, wie Dah sich schwach gab.
Gramper saß auf seinem gewohnten Stuhl und hörte zu. »Sei jetz’ ’n guter Junge, Billy«, redete er ihm zu. »Gib deinem Dah wenigstens die Chance, ne?«
»Na gut.« Billy setzte sich an den Küchentisch.
Mam kam aus der Spülküche ins Zimmer.
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Billy wurde klar, dass er dieses Haus vielleicht nie wieder betreten würde. Als er aus dem Ausbildungslager heimgekommen war, hatte er zum ersten Mal die Enge des Hauses bemerkt, seine Finsternis und wie schwer der Kohlenstaub und die Kochdünste in der Luft hingen. Vor allem aber fiel ihm nach den ungezwungenen Frotzeleien in der Kaserne auf, dass er in seinem Elternhaus zu einer strenggläubigen und engstirnigen Ehrsamkeit erzogen worden war, die vieles von dem erstickte, was menschlich und ganz natürlich war. Dennoch stimmte Billy der Gedanke traurig, sein Elternhaus für immer zu verlassen. Und dabei ging es weniger um das Gebäude, sondern vielmehr um das Leben, das er hinter sich ließ. Hier war sein Leben einfach, geordnet und übersichtlich gewesen: Er hatte an Gott geglaubt, hatte seinem Vater gehorcht und den Kollegen in der Grube blindes Vertrauen geschenkt. Die Minenbesitzer waren die Bösen, die Gewerkschaft die Guten, und der Sozialismus versprach eine leuchtende Zukunft. Aber so einfach war das Leben nicht. Selbst wenn er in die Wellington Row zurückkehrte – er könnte nie mehr der Junge sein, der hier einmal gewohnt hatte.
Dah faltete die Hände, schloss die Augen und sagte: »O Herr, hilf deinem Diener, bescheiden und sanftmütig zu sein, wie Jesus Christus es war, dein eingeborener Sohn.« Er schlug die Augen wieder auf und fuhr fort: »Warum hast du das getan, Billy? Warum hast du dich freiwillig gemeldet?«
»Weil wir Krieg haben. Und ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen kämpfen.«
»Aber begreifst du denn nicht …« Dah hielt inne und hob begütigend die Hände. »Du glaubst doch nicht etwa, was in den Zeitungen steht? Dass alle Deutschen Bösewichter sind, die Nonnen vergewaltigen?«
»Nein«, sagte Billy. »Alles, was die Zeitungen über die Bergarbeiter geschrieben haben, war gelogen. Wie könnte man da erwarten, dass sie über die Deutschen die Wahrheit schreiben?«
»So wie ich es sehe, ist es ein Krieg der Kapitalisten, der nichts mit den Arbeitern zu tun hat«, sagte Dah. »Aber du kannst natürlich anderer Ansicht sein.«
Billy war erstaunt, wie sehr sein Vater sich um Versöhnlichkeit bemühte. Nie zuvor hatte er Dah sagen hören: Aber du kannst natürlich anderer Ansicht sein. »Ich weiß nicht viel über den Kapitalismus«, entgegnete Billy, »aber wahrscheinlich hast du recht. Trotzdem, die Deutschen müssen aufgehalten werden. Sie glauben, sie hätten das Recht, über die ganze Welt zu herrschen.«
»Wir sind Briten«, erwiderte Dah. »Unser Empire ist gigantisch. Wir herrschen über mehr als vierhundert Millionen Menschen. Die wenigsten davon haben das Wahlrecht. Diese Menschen haben in ihrem eigenen Land nichts zu sagen. Frag mal den Durchschnittsbriten, was er davon hält. Er wird dir antworten, dass es unsere Bestimmung ist, über niedere Völker zu herrschen.« Dah breitete die Hände zu einer Gebärde aus, die besagte: Ist das nicht offensichtlich? »Billy-Boy, es sind nicht die Deutschen, die glauben, sie sollten die Welt beherrschen – wir sind es!«
Billy seufzte. Er war ja der gleichen Meinung. »Aber wir werden angegriffen. Der Krieg mag aus den falschen Gründen geführt werden, aber wir müssen trotzdem kämpfen.«
»Wie
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