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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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viele Menschen sind in den letzten beiden Jahren gestorben?«, fragte Dah. »Millionen!« Er hob die Stimme, aber nicht so sehr aus Wut, sondern aus Trauer. »Und das wird so weitergehen, solange junge Männer bereit sind, sich trotzdem gegenseitig umzubringen, wie du dich ausdrückst.«
    »Das geht so lange weiter, bis jemand gesiegt hat, würde ich sagen.«
    »Du willst nur nicht, dass die Leute glauben, du hättest Angst«, warf Mam ein. »Stimmt’s?«
    »Nein«, erwiderte Billy, obwohl seine Mutter den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Wie üblich hatte sie ihm ins Herz geblickt. Fast zwei Jahre lang hatte Billy sich anhören müssen, dass gesunde junge Männer wie er Feiglinge seien, wenn sie nicht kämpften. So stand es in den Zeitungen; die Leute in den Läden und in den Kneipen sagten es; Rekrutierungssergeanten verhöhnten auf der Straße junge Zivilisten, und im Stadtzentrum von Cardiff reichten hübsche junge Mädchen jedem jungen Mann, der keine Uniform trug, eine weiße Feder als Zeichen, dass sie ihn der Feigheit verdächtigten. Billy wusste, dass es Propaganda war, aber es setzte ihm dennoch zu. Er hätte es nicht ertragen können, für einen Feigling gehalten zu werden.
    Er stellte sich vor, wie er den Mädchen mit den weißen Federn sagte, dass ein Bergmann gefährlicher lebe als ein Soldat. Von den Truppen an der Front abgesehen war es für die meisten Soldaten weniger wahrscheinlich, getötet oder verletzt zu werden, als für einen Bergarbeiter. Und die Kohle wurde gebraucht. Die Schiffe der Navy benötigten sie als Brennstoff. Die Regierung hatte sogar ausdrücklich erklärt, Bergleute sollten sich nicht zum Militär melden. Aber nichts von alledem bedeutete etwas. Erst seit Billy die kratzige khakifarbene Uniform, die neuen Stiefel und die Schirmmütze trug, fühlte er sich besser.
    Dah sagte: »Es heißt, Ende des Monats gibt es einen großen Durchbruch.«
    Billy nickte. »Die Offiziere schweigen, aber sonst redet jeder darüber. Wahrscheinlich sollen deshalb so schnell mehr Männer nach drüben geschafft werden.«
    »In den Zeitungen steht, es könnte die Schlacht sein, die das Ruder herumwirft. Der Anfang vom Ende des Krieges.«
    »Hoffen wir’s.«
    »Jetzt solltet ihr jedenfalls genug Munition haben, dank Lloyd George.«
    »Aye.« Im letzten Jahr waren die Granaten knapp geworden. Die Munitionskrise hätte Premierminister Asquith beinahe das Amt gekostet. Er hatte eine Koalitionsregierung gebildet, den neuen Posten des Munitionsministers geschaffen und ihn dem populärsten Kabinettsmitglied gegeben, David Lloyd George. Seitdem hatte die Munitionsproduktion nie gekannte Höhen erreicht.
    »Pass auf dich auf«, sagte Dah.
    »Und spiel nicht den Helden«, sagte Mam. »Überlass das denen, die den Krieg angefangen haben … der Oberschicht, den Konservativen, den Offizieren. Tu, was man dir sagt, aber nicht mehr.«
    »Krieg is’ Krieg«, sagte Gramper. »Da kann man nich’ auf Nummer sicher gehen.«
    Sie verabschiedeten sich von ihm, erkannte Billy, und kämpfte die aufwallenden Tränen nieder. »Na gut dann«, sagte er und stand auf.
    Gramper klopfte ihm auf die Schulter. Mam küsste ihn. Dah schüttelte ihm die Hand; dann gab er einem Impuls nach und umarmte ihn. Billy konnte sich nicht erinnern, wann Dah so etwas zum letzten Mal getan hatte.
    »Gott segne und behüte dich, Billy«, sagte Dah. Er hatte Tränen in den Augen.
    Billy hatte alle Mühe, die Selbstbeherrschung zu wahren. »Tja dann … macht’s gut«, sagte er und nahm seinen Tornister. Er hörte, wie seine Mutter schluchzte. Ohne zurückzuschauen, verließ er das Haus und schloss hinter sich die Tür. Dann atmete er tief durch und sammelte sich, ehe er die steile Straße hinunter zum Bahnhof ging.

    Auf ihrem Weg zum Meer schlängelt sich die Somme von Osten nach Westen durch Frankreich. Die Front, die von Norden nach Süden verlief, überquerte den Fluss nicht weit von Amiens entfernt. Südlich davon wurde die Linie der Entente bis zur Schweizer Grenze von französischen Truppen gehalten. Nördlich davon lagen zumeist englische Einheiten oder Truppen aus dem Commonwealth.
    Von hier aus verlief eine Hügelkette mehr als dreißig Kilometer weit nach Nordwesten. Die deutschen Schützengräben in diesem Abschnitt waren tief in die Hänge getrieben worden. Aus einem solchen Graben heraus beobachtete Major Walter von Ulrich die britischen Stellungen durch einen starken Zeiss-Feldstecher.
    Es war ein sonniger Frühsommertag. Die

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