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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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bei. »Und wenn wir nun einen Blick auf das westliche Ende Europas werfen, auf Frankreich, so besteht dort der Wunsch, Deutschland Elsass-Lothringen wegzunehmen …«
    Augenblicklich stieß der französische Gast, Jean-Pierre Charlois, den Kopf vor. »Das Frankreich vor dreiundvierzig Jahren geraubt wurde!«
    »Lassen Sie uns nicht darüber streiten«, erwiderte Walter. »Einigen wir uns darauf, dass Elsass-Lothringen im Jahre 1871, nach der Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg, dem Deutschen Reich beigetreten ist. Ob es nun geraubt wurde oder nicht, Monsieur le Comte – Fakt ist, dass Frankreich dieses Territorium zurückhaben will.«
    »Allerdings.« Der Franzose lehnte sich zurück und nippte an seinem Portwein.
    »Und Italien würde Österreich gerne die Gebiete von Trentino abnehmen …«
    »Wo die meisten Menschen Italienisch sprechen!«, rief Signor Falli.
    »… und dazu den Großteil der dalmatischen Küste …«
    »Voller venezianischer Löwen, katholischer Kirchen und römischer Säulen!«
    »… und Tirol, eine Provinz, in der die meisten Menschen Deutsch sprechen und die auf eine lange autonome Geschichte zurückblicken kann.«
    »Eine strategische Notwendigkeit.«
    »Natürlich.«
    Fitz erkannte, wie geschickt Walter vorging. Ohne grob zu werden, nur durch diskrete Provokation, hatte er die Vertreter jeder Nation angestachelt, in mehr oder weniger feindseligem Ton die territorialen Ambitionen ihrer Länder einzugestehen.
    »Aber wo strebt Deutschland neues Territorium an?«, fragte Walter. Er blickte sich am Tisch um, doch niemand antwortete. »Nirgendwo«, sagte er triumphierend. »Und das einzige andere mächtige Land in Europa, das Gleiches von sich behaupten kann, ist Großbritannien!«
    Gus Dewar reichte die Portweinkaraffe weiter und sagte in seinem schleppenden amerikanischen Tonfall: »Ich schätze, das stimmt.«
    »Warum also, mein alter Freund Fitz, sollten wir dann in den Krieg ziehen?«, fragte Walter.

    Am Sonntagmorgen ließ Lady Maud vor dem Frühstück Ethel zu sich bestellen.
    Ethel musste einen verärgerten Seufzer unterdrücken. Sie hatte so viel zu tun. Noch war es früh, aber das Personal schuftete bereits. Ehe die Gäste aufstanden, mussten die wichtigsten Räume – der Speisesaal, der Morgensalon und die kleineren allgemein zugänglichen Zimmer – gereinigt und aufgeräumt werden. Sämtliche Kamine waren zu kehren, die Feuer wieder zu entfachen und die Kohleneimer neu zu befüllen. Ethel überprüfte gerade, ob der Blumenschmuck im Billardzimmer noch frisch genug war, als sie gerufen wurde. Sosehr sie Fitz’ radikal gesinnte Schwester mochte, sie hoffte sehr, dass Lady Maud keinen zeitraubenden Auftrag für sie hatte.
    Als Ethel mit dreizehn Jahren auf Ty Gwyn angefangen hatte, waren ihr die Fitzherberts und deren Gäste gar nicht wie wirkliche Menschen erschienen, eher wie Gestalten aus einem Roman oder wie Angehörige fremdartiger Völker aus der Bibel, Hethiter vielleicht, und jagten ihr Furcht ein. Sie hatte Angst, Fehler zu begehen und ihre Anstellung zu verlieren; zugleich fand sie es unglaublich spannend, solche fremdartigen Geschöpfe aus der Nähe zu beobachten.
    Eines Tages befahl ihr ein Küchenmädchen, nach oben ins Billardzimmer zu gehen und den Tantalus herunterzuholen. Ethel war zu schüchtern, um zu fragen, was ein Tantalus sei. So ging sie ins Billardzimmer und schaute sich um in der Hoffnung, es wäre etwas Offensichtliches wie ein Tablett mit schmutzigem Geschirr. Sie entdeckte jedoch nichts, das nach unten zu gehören schien. Als Maud hereinkam, fand sie Ethel in Tränen aufgelöst.
    Maud war damals eine schlaksige Fünfzehnjährige, eine Frau in den Kleidern eines Mädchens, unglücklich und aufsässig. Erst später sollte Maud ihrem Leben einen Sinn geben, indem sie ihre Unzufriedenheit in einen Kreuzzug verwandelte. Doch schon mit fünfzehn war sie ein Mensch, dessen Mitgefühl leicht zu wecken war und der empfindlich auf Ungerechtigkeit und Unterdrückung reagierte.
    Sie fragte Ethel, was los sei. Der Tantalus erwies sich als ein silberner Ständer für Brandy- und Whiskyflaschen. Sein Name kam daher, dass er abgeschlossen werden konnte, damit die Dienstboten sich nicht heimlich einen Schluck zu Gemüte führten, erklärte Maud: Wie der arme Tantalus aus der griechischen Mythologie sähen sie vor sich, was sie begehrten, und kämen trotzdem nicht heran. Ethel dankte Maud von Herzen. Es war die erste von vielen Freundlichkeiten, die

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