Sturz der Titanen
Friedensgespräche vorschlägt, wird er den Vorschlag öffentlich unterstützen. Da ist es wohl unsere Pflicht, die Botschaft an unseren Souverän weiterzuleiten.«
»Allerdings«, bestätigte Otto. »Der Kaiser muss entscheiden.«
Walter schrieb Maud einen Brief auf einem schlichten Blatt Papier ohne Briefkopf.
Liebste!
Es ist Winter in Deutschland und in meinem Herzen.
Er schrieb auf Englisch und gab weder seine Adresse an, noch nannte er Mauds Namen.
Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr ich Dich liebe und vermisse.
Walter wusste nicht recht, wie er sich ausdrücken sollte. Der Brief könnte einem neugierigen Polizisten in die Hände fallen; deshalb musste Walter dafür sorgen, dass man weder ihn noch Maud identifizieren konnte.
Ich gehöre zu den Millionen von Männern, die von den Frauen getrennt sind, die sie lieben. Der eisige Nordwind weht durch unser aller Seelen …
Er musste versuchen, einen Brief zu schreiben, wie Tausende von Soldaten sie von der Front in die Heimat an ihre Liebsten schickten.
Meine Welt ist kalt und trist ohne Dich, und für Dich mag es nicht anders sein. Wie schwer es ist, die Trennung ertragen zu müssen!
Zu gern hätte Walter von seiner Arbeit beim Frontnachrichtendienst erzählt und von seiner Mutter, die ihn mit Monika verheiraten wollte, vom Nahrungsmangel in Berlin und sogar von dem Buch, das er zurzeit las, Buddenbrooks , die Geschichte einer Kaufmannsfamilie. Aber er hatte Angst, Maud und sich selbst dadurch in Gefahr zu bringen.
Ich kann nicht viel sagen, aber Du sollst wissen, dass ich Dir treu bin …
Er hielt inne und dachte schuldbewusst an sein Verlangen, Monika zu küssen. Aber er hatte diesem Verlangen ja nicht nachgegeben.
… und den heiligen Versprechen, die wir einander gegeben haben, als wir das letzte Mal zusammen waren.
Deutlicher konnte er nicht auf ihre Ehe eingehen. Er wollte nicht, dass jemand, der diese Zeilen las, die Wahrheit ahnte.
Jeden Tag denke ich voller Sehnsucht an den Augenblick, da wir uns wiedersehen, uns in die Augen schauen und in die Arme schließen.
Bis dahin vergiss mich nicht!
Ohne den Brief zu unterschreiben, steckte Walter ihn in einen Umschlag und schob ihn in die Brusttasche seines Jacketts.
Es gab keinen Postdienst zwischen Deutschland und England.
Walter verließ sein Zimmer, ging nach unten, zog den Mantel an, setzte den Hut auf und trat hinaus auf die eisigen Straßen von Berlin.
Er traf Gus Dewar in der Bar des Adlon. Das Hotel hatte sich einen Schatten seiner Vorkriegswürde bewahrt. Die Kellner trugen Frack, und ein Streichquartett spielte in der Bar, doch es gab keine importierten Getränke – keinen Scotch, keinen Brandy und keinen englischen Gin –, also bestellten sie sich ein Kirschwasser.
»Und?«, fragte Gus neugierig. »Wie ist die Nachricht aufgenommen worden?«
Walter war voller Hoffnung, obwohl er wusste, dass allzu großer Optimismus unangebracht war, und wollte seine Aufregung herunterspielen. Was er Gus zu berichten hatte, war zwar erfreulich, aber keine Sensation. »Der Kaiser schreibt an den Präsidenten.«
»Ausgezeichnet! Und was?«
»Ich habe den Entwurf gesehen. Ich fürchte, der Tonfall ist nicht allzu versöhnlich.«
»Was meinen Sie damit?«
Walter schloss die Augen, versuchte, sich zu erinnern, und zitierte dann, so gut er konnte: »›Der furchtbarste Krieg der Geschichte tobt nun schon seit zweieinhalb Jahren. In diesem Konflikt haben Deutschland und seine Verbündeten ihre unzerstörbare Stärke bewiesen. Unsere unerschütterlichen Linien halten den endlosen Angriffen stand. Die Ereignisse der letzten Zeit haben überdies gezeigt, dass auch ein Fortsetzen des Krieges unsere Widerstandskraft nicht zu brechen vermag.‹ Und so geht es immer weiter.«
»Hm. Jetzt verstehe ich, was Sie mit ›unversöhnlichem Tonfall‹ meinen.«
»Irgendwann kommt die Note dann auf den Punkt.« Walter rief sich den nächsten Teil ins Gedächtnis. »Es heißt weiter: ›Im Bewusstsein unserer militärischen und wirtschaftlichen Stärke sind wir bereit, den uns aufgezwungenen Kampf, bis zum Ende auszufechten.‹ Und nun kommt der wichtige Teil: ›Zugleich sind wir von dem Wunsch beseelt, dem Blutvergießen und den Schrecken ein Ende zu bereiten, und schlagen deshalb vor, in Friedensverhandlungen einzutreten.‹«
Gus war hocherfreut. »Das ist ja großartig! Er sagt Ja!«
»Pssst!« Walter blickte sich nervös um, doch niemand schien sie bemerkt zu haben. Das Streichquartett übertönte
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