Sturz der Titanen
einem Berliner Bordell von den Kämpfen an der Front, eine Flasche Schnaps in der Hand und den Arm um ein hübsches blondes Fräulein geschlungen. Ein wenig gehässig sagte sich Maud, dass es ihr in diesem Fall lieber sei, er läge verwundet im Lazarett, doch im nächsten Augenblick schämte sie sich für diesen Gedanken.
Unter den Gästen auf Ty Gwyn war auch Gus Dewar. Beim Tee sprach er Maud an. Wie alle Männer trug er Knickerbocker – weite Tweedhosen, die unter dem Knie zusammengeknöpft waren –, nur standen sie dem hochgewachsenen Amerikaner überhaupt nicht. Er sah darin beinahe lächerlich aus. Als er durch den überfüllten Morgensalon zu Maud herüberkam, balancierte er vorsichtig eine Teetasse.
Maud unterdrückte ein Seufzen. Wenn ein unverheirateter Mann sie ansprach, hegte er zumeist romantische Gedanken, und sie musste ihn loswerden, ohne auch nur die Andeutung zu machen, dass sie verheiratet war – und das war nicht immer einfach. Schon jetzt waren so viele Junggesellen aus der Oberschicht im Krieg gefallen, dass selbst die unattraktivsten Kandidaten sich Chancen bei ihr ausrechneten: jüngere Söhne bankrotter Barone, schmächtige Geistliche mit Mundgeruch, sogar Homosexuelle, die eine Ehefrau suchten, damit sie ihnen einen Anstrich von Achtbarkeit verlieh.
Nicht dass Gus Dewar ein schlechter Kandidat gewesen wäre. Zwar sah er nicht besonders gut aus und ließ die natürliche Eleganz von Männern wie Walter und Fitz vermissen, aber er hatte einen scharfen Verstand und hehre Ideale; außerdem teilte er Mauds leidenschaftliches Interesse am Weltgeschehen. Und seine Tapsigkeit in physischer Hinsicht und seine Unbeholfenheit auf gesellschaftlichem Parkett, vermischt mit seiner amerikanischen Unbekümmertheit, verliehen ihm sogar einen gewissen Charme. Wäre Maud ungebunden gewesen, hätte er vielleicht Chancen bei ihr gehabt.
Dewar zog seine langen Beine an, als er sich neben sie auf das gelbe Seidensofa setzte. »Es ist mir ein Vergnügen, wieder auf Ty Gwyn zu sein«, sagte er.
Maud nickte. Nie würde sie das dramatische Wochenende im Januar 1914 vergessen, als der König Ty Gwyn besucht hatte und als das schreckliche Grubenunglück in Aberowen geschehen war. Doch zu ihrer Schande musste sie sich eingestehen, dass sie sich am lebhaftesten an die Küsse erinnerte, die sie mit Walter getauscht hatte. Wie töricht sie gewesen waren, es bei diesen Küssen zu belassen.
»Warum sind die Männer bloß so dumm, in den Krieg zu ziehen?«, sagte sie. »Warum kämpfen sie weiter, wenn der Preis an Menschenleben jeden denkbaren Nutzen längst um ein Vielfaches überstiegen hat? Die British Army hat bereits eine Million Mann verloren. Allein an der Somme sind vierhunderttausend Mann gefallen. Trotzdem schreiben die meisten Zeitungen noch immer von einem großen britischen Sieg. Jeder Versuch einer realistischen Einschätzung erhält das Etikett ›unpatriotisch‹. Aber die meisten Menschen in unserem Land haben begriffen, dass wir keine großen militärischen Fortschritte machen.«
»Die deutsche Seite wird vielleicht bald Friedensgespräche vorschlagen«, meinte Gus.
»Hoffentlich.«
»Ich glaube schon. Wahrscheinlich wird eine offizielle Eingabe der Deutschen nicht mehr lange auf sich warten lassen. Was meinen Sie, wie ein solches Angebot aufgenommen würde?«
»Positiv, könnte ich mir vorstellen«, sagte Maud, wog ihre nächsten Worte aber sorgfältig ab, denn sie wusste, dass Gus dem inneren Zirkel um den amerikanischen Präsidenten angehörte. »Vor zehn Tagen hat das Kabinett über ein Papier von Lord Lansdowne debattiert, dem ehemaligen konservativen Außenminister. Lansdowne hat die Meinung vertreten, wir könnten den Krieg nicht gewinnen.«
Gus zündete sich eine Zigarette an. »Davon wusste ich gar nichts.«
»Das Papier war geheim.«
»Und wie wurde es aufgenommen?«
»Soviel ich weiß, hat Lansdowne vier mächtige Verbündete gefunden: Außenminister Grey, Schatzkanzler McKenna, den Präsidenten des Handelsausschusses, Runciman, und den Premierminister selbst.«
Auf Gus’ Gesicht erschien ein hoffnungsvoller Ausdruck. »Das ist ja großartig!«
»Ja, zumal jetzt auch dieser aggressive Winston Churchill fort ist. Vom katastrophalen Fehlschlag seines Lieblingsprojekts, der Dardanellen-Expedition, hat er sich politisch nie erholt.«
»Und wer hat sich gegen Lansdownes Vorschlag ausgesprochen?«
»David Lloyd George, der Kriegsminister und populärste Politiker des Landes.
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