Sturz der Titanen
worden. Grigori spürte, wie sich eine kalte Hand um sein Herz krampfte. Katherina könnte getötet worden sein, nur weil sie die Straße überquert hatte!
Andere waren genauso aufgebracht wie Grigori, und in der Kantine kochten die Emotionen hoch. Bald war die Atmosphäre so aufgeladen, dass Grigori auf einen Tisch stieg, die Soldaten zur Ordnung rief und sie aufforderte, der Reihe nach zu sprechen. Binnen kurzer Zeit verwandelte sich das Abendessen in eine politische Veranstaltung. Als Ersten rief Grigori seinen Freund Isaak auf, den alle vom Fußballplatz kannten.
»Ich bin zur Armee gegangen, um Deutsche zu töten, keine Russen«, erklärte Isaak, und die Soldaten grölten zustimmend. »Die Demonstranten sind unsere Brüder und Schwestern, unsere Mütter und Väter – und ihr einziges Verbrechen besteht darin, Brot zu verlangen!«
Grigori kannte alle Bolschewiken im Regiment und rief mehrere von ihnen als Sprecher auf; zugleich achtete er sorgfältig darauf, auch andere zu benennen, um nicht voreingenommen zu erscheinen. Normalerweise waren die Männer äußerst vorsichtig, wenn es darum ging, ihre Meinung kundzutun, denn alles, was sie sagten, wurde gemeldet, sodass es zu entsprechenden Bestrafungen kam. An diesem Tag aber schien das niemanden zu kümmern.
Der Sprecher, der den nachhaltigsten Eindruck hinterließ, war Jakow, ein großer Mann mit Schultern wie ein Bär. Mit Tränen in den Augen stieg er neben Grigori auf den Tisch. »Als man uns den Schießbefehl erteilt hat, wusste ich nicht, was ich tun sollte«, sagte Jakow. Er schien seine Stimme nicht heben zu können, und so breitete sich Schweigen aus, denn alle wollten hören, was er zu sagen hatte. »Ich habe gebetet, ›Herr, führe mich‹, und habe auf mein Herz gehört, doch Gott hat mir nicht geantwortet.« Die Männer schwiegen weiter. »Ich habe mein Gewehr gehoben«, sagte Jakow. »Der Hauptmann hat gerufen: ›Feuer! Feuer!‹ Aber auf wen sollte ich schießen? In Galizien wussten wir wenigstens, wer der Feind war, denn sie haben auf uns geschossen. Doch heute, auf dem Platz, da hat uns niemand angegriffen. Die Menge bestand zum größten Teil aus Frauen, einige mit Kindern, und selbst die Männer hatten keine Waffen.«
Jakow verstummte. Alle Anwesenden waren wie erstarrt, als fürchteten sie, jede Bewegung könne den Zauber brechen. Schließlich hakte Isaak nach: »Was ist dann geschehen, Jakow Davidowitsch?«
»Ich habe den Abzug betätigt«, sagte Jakow. Tränen strömten ihm über die Wangen und in den buschigen schwarzen Bart. »Ich habe nicht mal gezielt. Der Hauptmann hat mich angeschrien, und da habe ich einfach geschossen, damit er das Maul hält. Aber ich habe eine Frau getroffen … fast noch ein Mädchen von vielleicht neunzehn Jahren. Sie hatte einen grünen Mantel an. Ich habe ihr in die Brust geschossen, und das Blut … es hat den ganzen Mantel getränkt, rot auf grün. Dann ist sie hingefallen.« Nun weinte er ungehemmt, und seine Stimme war nur noch ein Schluchzen. »Ich habe mein Gewehr fallen lassen und versucht, zu ihr zu laufen und ihr zu helfen, aber die Menge hat sich auf mich gestürzt, hat mich geschlagen und getreten, auch wenn ich es kaum gespürt habe.« Er wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. »Jetzt kriege ich bestimmt Ärger, weil ich mein Gewehr verloren habe.« Wieder machte er eine lange Pause. »Neunzehn Jahre«, sagte er dann. »Ich glaube, das Mädchen muss ungefähr neunzehn gewesen sein …«
Grigori hatte nicht bemerkt, dass die Tür sich geöffnet hatte, doch plötzlich stand Leutnant Kirilow da. »Runter von dem verdammten Tisch, Jakow!«, brüllte er; dann starrte er Grigori an. »Und du auch, Peschkow, du Unruhestifter!« Er drehte sich um und sprach zu den Männern, die an den langen Tischen saßen. »Ab in eure Unterkünfte! Alle!«, befahl er. »Wer in einer Minute noch hier sitzt, bekommt die Knute zu spüren!«
Niemand rührte sich. Trotzig starrten die Männer ihren Leutnant an. Grigori fragte sich, ob so wohl eine Meuterei begann.
Doch Jakow war viel zu sehr in seinem Schmerz versunken, als dass er erkannt hätte, für welch dramatischen Augenblick er gesorgt hatte. Unbeholfen stieg er vom Tisch, und die Spannung löste sich. Einige der Männer in der Nähe Kirilows erhoben sich. Sie sahen wütend aus, aber auch ängstlich. Trotzig blieb Grigori noch ein paar Augenblicke auf dem Tisch stehen. Dann musste er erkennen, dass der Zorn der Männer noch nicht ausreichte, um sich
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