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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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schon seit dreihundert Jahren der modernere gregorianische Kalender.
    Der Temperaturanstieg fiel mit dem Internationalen Frauentag zusammen; die Arbeiterinnen in den Textilfabriken waren in Streik getreten und marschierten aus den Industrievorstädten ins Stadtzentrum, um dort gegen die Schlangen beim Anstehen um Lebensmittel, gegen den Krieg und den Zaren zu demonstrieren. Inzwischen war Brot rationiert worden, aber das schien den Mangel nur verschlimmert zu haben.
    Wie alle Militäreinheiten in der Stadt wurde auch das 1. Maschinengewehrregiment abkommandiert, um die Polizei und die Kosaken bei der Aufrechterhaltung der Ordnung zu unterstützen. Was wohl passiert, fragte sich Grigori, würde man den Soldaten befehlen, auf die Demonstranten zu schießen? Würden sie gehorchen? Oder würden sie ihre Gewehre auf die Offiziere richten? Im Jahre 1905 hatten die Soldaten gehorcht und auf die Arbeiter geschossen; seitdem hatte das russische Volk ein Jahrzehnt unter Tyrannei und Repressionen, Krieg und Hunger gelitten.
    Doch es gab keinen Aufstand. Als Grigori und seine Einheit an jenem Abend in die Kaserne zurückkehrten, hatten sie keinen einzigen Schuss abgegeben.
    Am Freitag schlossen sich weitere Arbeiter dem Streik an.
    Der Zar hielt sich im Armeehauptquartier in Mogilew auf, vierhundert Meilen von Petrograd entfernt. Die Verantwortung für die Hauptstadt trug der Kommandeur des Militärdistrikts Petrograd, General Chabalow. Er beschloss, die Demonstranten vom Stadtzentrum fernzuhalten, indem er auf den Brücken Soldaten postierte. Grigoris Abteilung wurde in der Nähe der eigenen Kaserne eingesetzt. Sie bewachten die Sampsonjewski-Brücke, die über die Newa in die Stadt führte. Doch der Fluss war noch immer zugefroren, und so gingen die Demonstranten der Armee aus dem Weg, indem sie einfach über das Eis marschierten – sehr zur Freude der sie beobachtenden Soldaten, von denen die meisten mit den Demonstranten sympathisierten, so wie Grigori.
    Die Streiks waren nicht von einer der politischen Parteien organisiert worden. Den Bolschewiken – genau wie den anderen revolutionären Parteien auch – blieb nichts anderes übrig, als der Arbeiterklasse hinterherzulaufen.
    Wieder einmal blieb Grigoris Einheit von Straßenkämpfen verschont, aber das war nicht überall so. Als Grigori am Samstagabend in die Kaserne zurückkehrte, erfuhr er, dass die Polizei gewaltsam gegen die Demonstranten vor dem Bahnhof am Newski-Prospekt eingeschritten war. Überraschenderweise hatten die Kosaken die Demonstranten vor der Polizei verteidigt. Die Männer sprachen von den »Genossen Kosaken«. Grigori war da skeptisch: Die Kosaken kannten keine Treue; sie liebten nur den Kampf.
    Am Sonntagmorgen wurde Grigori um fünf Uhr geweckt, lange vor Sonnenaufgang. Beim Frühstück machte das Gerücht die Runde, der Zar habe General Chabalow angewiesen, den Streiks und Protestmärschen »mit allen Mitteln« ein Ende zu bereiten.
    Nach dem Frühstück bekamen die Sergeanten ihre Befehle. Jeder Zug sollte einen anderen Punkt der Stadt bewachen, nicht nur Brücken, sondern auch Kreuzungen, Bahnhöfe und Postämter. Die einzelnen Stellungen würden per Feldtelefon miteinander verbunden sein. Die Hauptstadt des Reiches sollte gesichert werden wie eine eroberte Feindesstadt. Am schlimmsten jedoch war, dass das Regiment an bestimmten kritischen Punkten Maschinengewehre aufstellen sollte.
    Als Grigori die Befehle an seine Männer weitergab, zeigten diese sich entsetzt. Isaak fragte: »Wird der Zar wahrhaftig befehlen, sein eigenes Volk mit Maschinengewehren niederzumähen?«
    »Und wenn es so ist«, fügte Grigori die nächste Frage an, »werden die Soldaten ihm gehorchen?«
    Grigoris wachsende Aufregung ging mit Angst einher. Die Streiks machten ihm Mut, denn er wusste, dass das russische Volk sich gegen seine Herrscher erheben musste. Anderenfalls würde der Krieg fortdauern, die Menschen würden verhungern, und der kleine Wladimir würde nie ein besseres Leben führen als Grigori und Katherina. Es war diese Überzeugung, die Grigori dazu veranlasst hatte, der Partei beizutreten. Andererseits hegte er die Hoffnung, dass die Revolution ohne Blutvergießen verlief, wenn die Soldaten die Befehle verweigerten. Doch als man nun seinem eigenen Regiment befahl, auf den Straßen Petrograds Maschinengewehrstellungen zu errichten, war diese Hoffnung dahin.
    War es überhaupt möglich, dass das russische Volk sich der zaristischen Herrschaft entledigte?

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