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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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ausübte, war zu stark. Einige rannten zum Fluss. Sie wollten ihr Glück lieber im Kampf gegen Pharaonen versuchen, als sich hilflos den Gewehrschüssen auszusetzen.
    »Feuer!«, rief Pinsky.
    Die Schüsse prasselten wie Feuerwerk, gefolgt von Angst- und Schmerzschreien, als Demonstranten tot oder verwundet zu Boden fielen.
    Grigori fühlte sich um zwölf Jahre zurückversetzt. Er sah sich wieder auf dem Schlossplatz, umgeben von Hunderten betender Männer und Frauen, die auf dem Boden knieten, während ihnen eine lange Kette von Soldaten mit angelegten Gewehren gegenüberstand. Grigori sah wieder seine Mutter vor sich, die mit dem Gesicht nach unten im blutigen Schnee lag. Im Geiste hörte er den elfjährigen Lew schreien: »Sie ist tot! Maminka ist tot! Oh, liebe Maminka!«
    »Nein«, sagte Grigori laut. »Das lasse ich nicht noch einmal zu.« Er entsicherte sein Gewehr und hob es an die Schulter.
    Die Menge schrie und floh in sämtliche Richtungen. Wer zu Boden stürzte, wurde niedergetrampelt. Die Pharaonen waren völlig außer Kontrolle und schlugen blindlings zu, während die Polizisten zu Fuß willkürlich in die Menge feuerten.
    Grigori zielte sorgfältig auf Pinsky. Er war kein guter Schütze, und Pinsky war mehr als sechzig Meter von ihm entfernt, aber eine kleine Chance hatte er.
    Er drückte ab.
    Pinsky rief weiter in sein Megafon.
    Grigori fluchte. Er hatte vorbeigeschossen. Er zielte erneut, hielt diesmal tiefer – der Rückstoß riss das Gewehr jedes Mal ein kleines Stück nach oben – und feuerte erneut.
    Wieder daneben.
    Das Blutvergießen nahm seinen Fortgang, als die Polizisten wahllos auf die fliehenden Frauen und Kinder feuerten.
    Grigori hatte fünf Schuss im Magazin. Eine der fünf Kugeln musste einfach treffen. Er schoss zum dritten Mal.
    Pinsky stieß einen schrillen Schmerzensschrei aus, verstärkt von seinem Megafon. Sein rechtes Knie knickte ein. Er ließ das Megafon fallen und stürzte zu Boden.
    Grigoris Männer folgten seinem Beispiel und attackierten die Polizei. Einige schossen; andere benutzten ihre Gewehre wie Knüppel, wieder andere rissen die Pharaonen von ihren Pferden. Die Demonstranten schöpften Mut und schlossen sich den Soldaten an. Einige, die bereits auf dem Eis waren, machten kehrt.
    Die Wut des Mobs war unbeschreiblich, und so kam es zu hässlichen Szenen. Solange die Leute sich erinnern konnten, waren die Polizisten Petrograds üble Schläger gewesen, undiszipliniert, grausam und unbeherrscht, und nun nahm das Volk Rache. Polizisten, die auf dem Boden lagen, wurden zusammengetreten oder niedergetrampelt. Diejenigen, die noch standen, wurden umgerissen; dann prügelten die Leute auf sie ein. Den Pharaonen schoss man die Pferde unter dem Hintern weg. Der Widerstand der Polizeikräfte währte nur kurz; dann ergriffen sie die Flucht – zumindest die, die noch in der Lage dazu waren.
    Grigori sah, wie Pinsky sich aufrappelte. Er zielte erneut, wollte diesen Bastard ein für alle Mal erledigen, doch ein Pharao machte ihm einen Strich durch die Rechnung: Der Reiter hob seinen Kommandeur hoch, warf ihn über den Hals des Pferdes und galoppierte davon.
    Grigori schaute den fliehenden Polizeikräften hinterher.
    Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er noch nie so tief im Dreck gesteckt hatte.
    Sein Zug hatte gemeutert. In direktem Widerspruch zu ihren Befehlen hatten sie die Polizei angegriffen, nicht die Demonstranten. Und er, Grigori, hatte seine Leute angeführt, indem er auf Pinsky geschossen hatte – und der hatte zu allem Überfluss überlebt, sodass er Meldung machen konnte. Es gab nichts zu vertuschen; eine Entschuldigung war unmöglich, die Bestrafung unvermeidlich. Grigori hatte sich des Verrats schuldig gemacht. Man würde ihn vor ein Kriegsgericht stellen und hinrichten.
    Trotzdem war er glücklich.
    Warja drängte sich durch die Menge. Ihr Gesicht war blutverschmiert, aber sie lächelte. »Was jetzt, Sergeant?«
    Grigori beschloss, sich seiner Strafe nicht kampflos zu ergeben. Der Zar mordete sein Volk, und jetzt schoss das Volk zurück. »Zur Kaserne«, sagte er. »Bewaffnen wir die Arbeiter.« Er schnappte sich Warjas rote Fahne. »Folgt mir!«
    Er marschierte über den Sampsonjewski-Prospekt. Seine Männer folgten ihm, angeführt von Isaak. Die Menschenmenge schloss sich ihnen an. Grigori wusste nicht, was geschehen würde oder was er tun sollte, aber er brauchte keinen Plan: An der Spitze dieser Menge war nichts unmöglich.
    Die Wache öffnete das Kasernentor

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