Sturz der Titanen
Hause. Unterwegs kaufte er noch ein wenig Milch und machte sie auf dem Feuer warm. Dann flößte er sie Wladimir mit einem Teelöffel ein. Der Kleine aß alles auf. Anschließend erwärmte Grigori Wasser in einem Topf und wusch dem Jungen die Stirn mit einem feuchten Lappen. Es schien tatsächlich zu helfen. Die Röte wich aus Wladimirs Wangen, und seine Atmung normalisierte sich.
Die größten Sorgen waren von Grigori abgefallen, als Katherina um halb acht nach Hause kam, müde und durchgefroren. Sie brachte einen Kohlkopf und ein paar Gramm Schweinefett mit. Grigori kochte einen Eintopf daraus, während Katherina sich erst einmal ausruhte. Er erzählte ihr von Wladimirs Fieber, der nachlässigen Hauswirtin und Magdas Empfehlungen.
»Was soll ich denn tun?«, sagte Katherina verzweifelt. »Ich muss doch in die Fabrik. Es gibt sonst niemanden, der auf Walodja aufpassen könnte.«
Grigori fütterte den Jungen mit Brühe und legte ihn schlafen. Anschließend aßen er und Katherina und gingen dann ins Bett. »Lass mich nicht zu lange schlafen«, bat Katherina. »Ich muss mich für Brot anstellen.«
»Ich gehe für dich«, sagte Grigori. »Du ruhst dich aus.« Er würde zu spät in die Kaserne kommen, aber das würde schon ohne Folgen bleiben: Die Offiziere hatten dieser Tage viel zu viel Angst vor Meuterei, als dass sie wegen solcher Lappalien einen Aufstand machten.
Katherina nahm Grigori beim Wort und schlief ein.
Als Grigori die Kirchenuhr zur zweiten Stunde läuten hörte, zog er seine Stiefel an und warf sich den Mantel über. Wladimir schien ruhig und tief zu schlafen. Grigori verließ das Haus und ging zur Bäckerei. Zu seiner Überraschung hatte sich dort bereits eine lange Schlange gebildet, und er musste erkennen, dass er trotz der nächtlichen Stunde zu spät gekommen war. Gut hundert Menschen warteten bereits. Eingemummelt bis zum Kinn, traten sie im Schnee von einem Fuß auf den anderen. Jemand hatte Stühle und Hocker mitgebracht, und ein geschäftstüchtiger junger Bursche verkaufte Brei aus einer Kohlepfanne und spülte die schmutzigen Schüsseln im Schnee. Hinter Grigori stellten sich noch ein Dutzend weitere Leute in die Schlange.
Während sie warteten, tauschten sie Gerüchte aus, diskutierten und schimpften. Zwei Frauen, die vor Grigori standen, stritten sich darüber, wer für den Brotmangel verantwortlich sei. Die eine behauptete, die Deutschen bei Hof seien schuld, während die andere erklärte, die Juden würden das Mehl horten.
»Habt ihr mal daran gedacht, wer dieses Land regiert?«, mischte Grigori sich in das Gespräch ein. »Wenn ein Bus umkippt, gebt ihr ja auch dem Fahrer die Schuld, weil der die Verantwortung trägt. Die Juden herrschen nicht über uns, und auch nicht die Deutschen, sondern der Zar und der Adel.« Das war die Botschaft der Bolschewiken.
»Wer soll uns denn sonst regieren, wenn nicht der Zar?«, erwiderte die jüngere der beiden Frauen argwöhnisch. Sie trug eine gelbe Pelzmütze.
»Wir sollten uns selbst regieren«, antwortete Grigori, »so wie es die Leute in Frankreich und Amerika tun.«
»Also, ich weiß nicht …«, sagte die ältere Frau. »Aber so, wie es ist, kann es auch nicht weitergehen.«
Um fünf Uhr öffnete die Bäckerei. Eine Minute später verbreitete sich die Nachricht in der Schlange, dass die Ration auf einen Laib pro Person beschränkt sei. »Die ganze Nacht anstehen für ein verdammtes Brot!«, rief die Frau mit der gelben Pelzmütze.
Es dauerte eine Stunde, bis Grigori sich zum Anfang der Schlange vorgearbeitet hatte. Die Frau des Bäckers ließ nur jeweils einen Kunden herein. Die ältere der beiden Frauen, die vor Grigori standen, verschwand im Laden; dann erschien die Bäckersfrau und verkündete: »Das war alles! Kein Brot mehr!«
Die Frau mit der gelben Mütze rief: »Nein, bitte! Nur noch eins!«
Die Bäckerin schaute sie mit versteinerter Miene an. Vermutlich war die Frau nicht die Erste, die sich aufs Betteln verlegte. »Haben Sie nicht gehört? Es gibt kein Brot mehr! Ich kann nicht verkaufen, was ich nicht habe!«
Die letzte Kundin kam mit einem Brot unter dem Arm aus dem Laden und eilte davon.
Die Frau mit der gelben Mütze brach in Tränen aus.
Die Bäckersfrau schlug die Tür zu.
Grigori drehte sich um und ging.
Am Donnerstag, dem 8. März, kam der Frühling nach Petrograd, doch das Russische Reich hielt eisern am Kalender des Julius Cäsar fest, sodass man hier erst den 23. Februar zählte. Im Rest Europas galt
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