Sturz der Titanen
Manchmal erschien es Grigori wie eine Fantasterei. Doch andere Nationen hatten solche Revolutionen bereits hinter sich; dort hatte das Volk seine Unterdrücker vom Thron gestürzt. Sogar die Engländer hatten einst einem ihrer Könige den Kopf abgeschlagen.
Petrograd ist wie ein Topf voll Wasser auf einer heißen Herdplatte, dachte Grigori: Rauch steigt auf, und ein paar Blasen blubbern. Die Oberfläche strahlt sengende Hitze aus, doch das Wasser kocht einfach nicht über.
Grigoris Zug wurde zum Taurischen Palast Katherinas II . geschickt, in den das zahnlose russische Parlament, die Staatsduma, gezogen war. Der Morgen verlief ruhig: Selbst Hungernde schliefen sonntags gerne länger. Doch das Wetter blieb sonnig, und gegen Mittag kamen sie aus den Vorstädten, zu Fuß und in Straßenbahnen. Einige versammelten sich im großen Park vor dem Taurischen Palast. Nicht alle waren Fabrikarbeiter, wie Grigori bemerkte. Auch Männer und Frauen aus der Mittelschicht waren darunter, ebenso Studenten, sogar ein paar offensichtlich wohlhabende Kaufleute. Einige hatten ihre Kinder mitgebracht. War das wirklich eine politische Demonstration, oder machten die Leute einfach nur einen Spaziergang im Park? Grigori vermutete, dass sie es selbst nicht wussten.
Am Eingang zum Palast erblickte er einen gut gekleideten jungen Mann, dessen attraktives Gesicht er von Zeitungsfotos kannte: Es war der Deputierte der Trudowiki, Alexander Fjodorowitsch Kerenski. Die Trudowiki waren eine gemäßigte Splittergruppe der Sozialrevolutionäre. Grigori fragte ihn, was drinnen vor sich ging. »Der Zar hat die Duma formell aufgelöst«, berichtete Kerenski.
Grigori schüttelte angewidert den Kopf. »Typisch«, sagte er. »Wie immer werden diejenigen unterdrückt, die sich beschweren. Dabei sollte man sich lieber um den Grund für die Beschwerden kümmern.«
Kerenski musterte ihn aufmerksam. Offenbar hatte er von einem einfachen Soldaten keine solche Analyse erwartet. »Das stimmt«, sagte er. »Jedenfalls, wir Deputierten haben beschlossen, den Erlass des Zaren zu missachten.«
»Was wird jetzt geschehen?«
»Die meisten Leute glauben, die Demonstrationen werden aufhören, sobald die Behörden die Versorgung mit Nahrungsmitteln wiederaufnehmen«, sagte Kerenski und ging zurück ins Gebäude.
Grigori fragte sich, ob die Gemäßigten das wirklich glaubten. Wenn die Behörden Brot liefern konnten, warum hatten sie es dann überhaupt erst rationiert? Aber die Gemäßigten schienen sich ohnehin mehr mit Hoffnungen als mit Tatsachen zu beschäftigen.
Am frühen Nachmittag war Grigori überrascht, die lächelnden Gesichter von Katherina und Wladimir in der Menge zu entdecken. Normalerweise verbrachte er den Sonntag mit den beiden, doch heute war er davon ausgegangen, sie gar nicht erst zu sehen. Zu Grigoris großer Erleichterung sah Wladimir gesund und zufrieden aus. Offensichtlich hatte der Junge die Krankheit überwunden. Für Katherina wiederum war es warm genug, dass sie den Mantel offen trug und ihre üppige Figur zeigte. Grigori wünschte sich, sie in den Armen halten zu können. Als sie ihn anlächelte, überkam ihn ein solches Verlangen, dass es beinahe unerträglich für ihn wurde. Er hasste es, auf Katherinas sonntägliche Umarmung verzichten zu müssen.
»Woher hast du gewusst, dass ich hier bin?«, fragte er.
»Ich habe geraten und Glück gehabt.«
»Ich freue mich, dich zu sehen, aber im Stadtzentrum ist es gefährlich!«
Katherina schaute zu der Menschenmenge, die durch den Park schlenderte. »Also, für mich sieht das ziemlich sicher aus.«
Grigori konnte es nicht bestreiten. Nichts deutete auf irgendwelchen Ärger hin.
Mutter und Kind gingen zum gefrorenen See, um über das Eis zu spazieren. Grigori beobachtete gerührt, wie Wladimir neben seiner Mutter herwatschelte und nach ein paar Schritten hinfiel. Katherina hob ihn hoch, tröstete ihn und ging weiter. Sie sahen so verletzlich aus …
Als sie zurückkehrten, sagte Katherina, sie wolle Wladimir jetzt nach Hause bringen, damit er seinen Mittagsschlaf halten könne.
»Geh durch die Nebenstraßen«, riet Grigori. »Und halte dich von Menschenmengen fern. Ich weiß nicht, was geschehen wird.«
»Ist gut.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Grigori sah kein Blutvergießen an diesem Tag, doch am Abend, in der Kaserne, hörte er auch andere Geschichten: Auf dem Snamenskaja-Platz hatte man den Soldaten befohlen, auf die Demonstranten zu feuern. Vierzig Menschen waren erschossen
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