Sturz der Titanen
gegen einen Offizier zu erheben; also stieg auch er vom Tisch. Die Männer verließen den Raum. Kirilow blieb stehen, wo er war, ließ den Blick schweifen und starrte jeden Einzelnen düster an.
Grigori kehrte in die Unterkunft zurück. Kurz darauf läutete die Kasernenglocke zum Zeichen, dass das Licht gelöscht werden sollte. Als Sergeant hatte Grigori das Privileg, in einem mit Vorhängen abgetrennten Teil des Schlafsaals zu schlafen. Er konnte die Männer mit leisen Stimmen sprechen hören.
»Ich werde nicht auf Frauen schießen«, sagte einer.
»Ich auch nicht.«
Eine dritte Stimme sagte: »Aber wenn ihr es nicht tut, wird irgendein Bastard von Offizier euch wegen Befehlsverweigerung erschießen.«
»Ich schieß einfach daneben«, sagte eine andere Stimme.
»Und wenn sie es bemerken?«
»Ihr müsst nur direkt über die Köpfe zielen, dann kann es keiner mit Gewissheit sagen.«
»Dann tue ich das«, sagte eine weitere Stimme.
»Ich auch.«
»Ich auch.«
Wir werden sehen, dachte Grigori und schlief ein. Im Dunkeln war es leicht, kühne Reden zu schwingen. Bei Tageslicht sah alles ganz anders aus.
Am Montag marschierte Grigoris Zug das kurze Wegstück über den Sampsonjewski-Prospekt bis zur Brücke, wo man ihnen befahl, keine Demonstranten ins Stadtzentrum zu lassen. Die Brücke war gut vierhundert Meter lang und ruhte auf massiven Steinsockeln im gefrorenen Fluss.
Es war der gleiche Auftrag, wie die Männer ihn schon am Freitag erhalten hatten, doch die Befehle lauteten diesmal anders.
Leutnant Kirilow wies Grigori ein. In letzter Zeit redete er, als hätte er ständig schlechte Laune, und vielleicht stimmte das auch: Vermutlich missfiel es den Offizieren genauso wie den Mannschaften, auf die eigenen Landsleute schießen zu müssen. »Kein Demonstrant darf ins Stadtzentrum, weder über die Brücke noch über das Eis. Verstanden? Ihr werdet auf jeden schießen, der sich euren Anweisungen widersetzt.«
Grigori ließ sich seine Verachtung nicht anmerken. »Jawohl, Euer Gnaden!«
Kirilow wiederholte die Befehle und verschwand dann. Grigori vermutete, dass er Angst hatte. Zweifellos befürchtete er, für alles verantwortlich gemacht zu werden, was nun geschehen würde, egal ob seine Männer die Befehle befolgten oder nicht.
Was Grigori anging, so hatte er nicht die Absicht, den Befehlen zu gehorchen. Er würde sich von den Anführern der Demonstranten in eine Diskussion verwickeln lassen und einfach nicht hinschauen, wenn die anderen das Eis überquerten, so wie er es schon am Freitag gemacht hatte.
Allerdings schloss sich früh am Morgen eine Polizeiabteilung seinem Zug an. Mit Entsetzen stellte Grigori fest, dass ausgerechnet sein alter Feind Michail Pinsky Kommandeur dieser Polizeieinheit war. Pinsky litt sichtlich nicht unter Nahrungsmangel. Sein rundes Gesicht war feister denn je, und seine Polizeiuniform spannte am Bauch. Er hatte ein Megafon dabei. Von seinem Kumpan Koslow war keine Spur zu sehen.
»Ich kenne dich«, sagte Pinsky zu Grigori. »Du hast in den Putilow-Werken gearbeitet!«
»Bis Sie dafür gesorgt haben, dass ich eingezogen wurde«, erwiderte Grigori.
»Dein Bruder ist ein Mörder, aber er ist nach Amerika geflohen.«
»Das sagen Sie.«
»Niemand wird heute hier den Fluss überqueren.«
»Das werden wir sehen.«
»Ich erwartete die uneingeschränkte Kooperation deiner Männer! Ist das klar?«
»Haben Sie Angst?«, fragte Grigori.
»Vor diesem Pöbel? Red keinen Unsinn!«
»Angst vor der Zukunft, meine ich. Nehmen wir an, die Revolutionäre setzen sich durch. Was werden sie wohl mit Ihnen anstellen? Sie haben Ihr Leben lang auf die Schwachen eingeprügelt, haben Frauen gequält und sich bestechen lassen. Haben Sie keine Angst vor Rache?«
Pinsky richtete den behandschuhten Finger auf Grigori. »Ich werde dich wegen subversiven Geredes melden«, brüllte er und stapfte davon.
Grigori zuckte mit den Schultern. So einfach war es für die Polizei nicht. Sie konnte nicht mehr ohne Weiteres jeden verhaften, dessen Gesicht ihnen nicht passte. Wenn man ihn, Grigori, festnahm, würden Isaak und die anderen meutern, und das wussten die Beamten.
Der Tag begann ruhig. Grigori wusste, dass ohnehin nur wenige Arbeiter unterwegs waren. Viele Fabriken hatten geschlossen, weil sie keine Kohle für ihre Dampfmaschinen und Hochöfen mehr bekamen. In anderen Betrieben wurde gestreikt. Die Arbeiter verlangten höhere Löhne, um die ständig steigenden Preise zahlen zu können; außerdem
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