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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Ansprache, »ist Ihr nächstes Reiseziel.«

    Die Abenddämmerung senkte sich über das Land. Zitternd wartete Lew Peschkow auf einem Güterbahnhof in Wladiwostok, dem »Arsch der Transsibirischen Eisenbahn«. Er trug einen langen Armeemantel über seiner Offiziersuniform, doch Sibirien war der kälteste Ort, an dem er je gewesen war.
    Lew war wütend, ausgerechnet wieder in Russland zu sein. Vor vier Jahren hatte er Glück gehabt, von hier zu entkommen, und noch mehr Glück, in eine reiche amerikanische Familie einzuheiraten. Und nun war er wieder zurück … und das alles wegen eines Mädchens. Was stimmt nicht mit mir, fragte er sich. Warum bin ich nie zufrieden?
    Ein Tor öffnete sich, und ein Maultierkarren kam aus dem Nachschublager. Lew sprang neben den britischen Soldaten, der den Karren kutschierte, auf den Bock und sagte: »Aye, Aye, Sid.«
    »Tag«, sagte Sid. Er war ein dünner Mann von ungefähr vierzig Jahren, der frühzeitig Falten bekam und stets eine Zigarette im Mundwinkel hatte. Sein Cockney-Akzent unterschied sich drastisch von dem, der in Südwales oder New York gesprochen wurde. Anfangs hatte Lew ihn kaum verstanden.
    »Hast du Whisky?«
    »Nee, nur ’n paar Dosen Kakao.«
    Lew drehte sich um, beugte sich in den Karren und schlug eine Ecke der Plane zurück. Er war fast sicher, dass Sid nur scherzte. Er sah einen Karton, auf dem Fry’s Chocolate and Cocoa stand.
    »Also, ich wage jetzt mal zu behaupten, dass die Kosaken nicht allzu viel damit anfangen können«, bemerkte Lew.
    »Guck mal unter den Karton.«
    Lew schob den Karton beiseite und sah ein anderes Etikett: Teacher’s Highland Cream Scotch Whisky.
    »Wie viel?«, fragte er.
    »Zwölf Kisten.«
    Lew schlug die Plane wieder zurück. »Besser als Kakao.«
    Er führte Sid aus dem Stadtzentrum. Dabei schaute er immer wieder über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass niemand ihnen folgte. Als er einen hochrangigen amerikanischen Offizier sah, wurde er für einen Moment nervös, doch niemand hielt sie an und stellte Fragen. Wladiwostok war voller Menschen, die vor den Bolschewiken geflohen waren, und die meisten hatten eine Menge Geld dabei. Sie gaben es aus, als würde es kein Morgen geben, was für die meisten von ihnen vermutlich auch zutraf. Infolgedessen hatten die Geschäfte viel zu tun, und die Straßen waren mit Karren verstopft. Da in Russland an allem Mangel herrschte, wurde der größte Teil der Waren aus China geschmuggelt. Auch Sids Scotch war aus dem Reich der Mitte gekommen.
    Lew sah eine Frau mit einem kleinen Mädchen und dachte an Daisy. Er vermisste sie. Daisy konnte inzwischen laufen und sprechen und begann die Welt zu erkunden. Sie hatte eine Schnute, die jedes Herz zum Schmelzen brachte, auch das von Joseph Vyalov. Lew hatte sie seit sechs Monaten nicht mehr gesehen. Daisy war jetzt zweieinhalb Jahre alt; bestimmt hatte sie sich im letzten halben Jahr sehr verändert.
    Und Lew vermisste auch Marga, träumte sogar von ihr. Zwar hatte er sich wegen Marga mit seinem Schwiegervater überworfen und war in Sibirien gelandet; dennoch sehnte er sich nach ihr.
    »Hast du eine Schwäche, Sid?«, fragte Lew. Irgendwie verspürte er das Bedürfnis, die Freundschaft mit diesem wortkargen Burschen zu vertiefen. Wenn man solche Dinger durchziehen wollte, musste man einander vertrauen.
    »Nee«, antwortete Sid. »Mich interessiert nur Knete.«
    »Gehst du für deine Liebe zum Geld auch Risiken ein?«
    »Nee, ich klau nur.«
    »Und hast du wegen der Klauerei jemals Schwierigkeiten bekommen?«
    »Kann man nich’ so sagen. Na ja, einmal war ich im Knast, aber nur sechs Monate.«
    »Meine Schwäche sind Frauen.«
    »Tatsache?«
    Lew kannte die britische Angewohnheit, eine Frage zu stellen, nachdem die Antwort längst gegeben war. »Ja. Ich kann ihnen einfach nicht widerstehen. Wenn ich in einen Nachtclub gehe, dann nur mit einem hübschen Mädchen am Arm.«
    »Tatsache?«
    »Ja. Ich kann nicht anders.«
    Der Karren bog in ein Hafenviertel mit unbefestigten Straßen und Seemannsheimen ein, die weder Namen noch Adressen hatten. Sid wirkte plötzlich nervös.
    »Du bist doch bewaffnet?«, fragte Lew.
    »Klar«, antwortete Sid. »Ich hab das hier. Er zog seinen Mantel beiseite und enthüllte eine riesige Pistole mit fußlangem Lauf, die in seinem Gürtel steckte.
    Lew hatte eine solche Waffe noch nie gesehen. »Was, zum Teufel, ist das denn?«
    »’ne Webley-Mars. Die mächtigste Knarre der Welt. Ziemlich selten.«
    »Bei dem Ding

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