Sturz der Titanen
gut?«
»Ja. Aber ich glaube, er ist nicht mehr in Frankreich. Er schreibt überhaupt nichts von den Schützengräben.«
»Dann ist er im Nahen Osten. Ich möchte zu gern wissen, ob er Jerusalem gesehen hat.« Die Heilige Stadt war Ende vergangenen Jahres von britischen Truppen eingenommen worden. »Unser Dah wird sich freuen, wenn er das hört.«
»Da ist auch eine Nachricht für dich. Er sagt, er schreibt dir später, aber ich soll dir ausrichten …« Sie griff in ihre Schürzentasche. »Da muss ich genau hingucken. ›Glaub mir, ich finde, ich bin schlecht informiert hier über alles in Politik von Russland.‹ Komischer Satz, also ehrlich.«
»Das ist ein Code«, sagte Ethel. »Nur jedes dritte Wort zählt. Die Nachricht lautet: ›Ich bin hier in Russland.‹ Was macht er denn da?«
»Ich wusste gar nicht, dass unsere Armee in Russland ist.«
»Ich auch nicht. Schreibt er was von einem Lied oder vom Titel eines Buches?«
»Ja. Woher weißt du das?«
»Weil es auch ein Code ist.«
»Er sagt, ich soll dich an ein Lied erinnern, das du früher gern gesungen hast. ›Freddie in the Zoo‹. Hab ich noch nie von gehört.«
»Ich auch nicht. Es geht um die Anfangsbuchstaben. ›F–i–t–Z.‹ Fitz.«
Bernie kam ins Zimmer. Er trug eine rote Krawatte. »Er schläft tief und fest«, sagte er. Er sprach von Lloyd.
»Mildred hat einen Brief von Billy«, sagte Ethel. »Er ist offenbar mit Earl Fitzherbert in Russland.«
»Aha!«, rief Bernie. »Ich hatte mich schon gefragt, wie lange es dauert.«
»Wie meinst du das?«
»Wir haben Truppen geschickt, die gegen die Bolschewiken kämpfen sollen. Ich wusste, dass es so weit kommt.«
»Wir haben Krieg mit dem neuen russischen Staat?«
»Offiziell natürlich nicht.« Bernie schaute auf die Uhr. »Wir müssen gehen.« Er kam nicht gern zu spät.
Im Bus sagte Ethel: »Wie hast du das vorhin gemeint? Wir können doch nicht ›inoffiziell‹ im Krieg sein. Entweder sind wir, oder wir sind nicht.«
»Churchill und seine Korona wissen, dass das britische Volk keinen Krieg gegen die Bolschewiken unterstützen würde, deshalb versuchen sie, ihn heimlich zu führen.«
Nachdenklich sagte Ethel: »Ich bin enttäuscht von Lenin. Er tut …«
»Er tut nur, was er tun muss«, unterbrach Bernie sie. Er war ein leidenschaftlicher Anhänger der Bolschewiken.
Ethel fuhr fort: »Lenin könnte ein genauso schlimmer Tyrann werden wie der Zar …«
»Das ist lächerlich!«
»… aber trotzdem sollte er eine Gelegenheit bekommen zu zeigen, was er für Russland tun kann.«
»Na, wenigstens darin sind wir uns einig.«
»Ich bin mir nur nicht sicher, was wir jetzt unternehmen sollen.«
»Wir brauchen weitere Informationen.«
»Billy wird mir bald mehr Einzelheiten schreiben.«
Ethel war empört über den geheimen Krieg – wenn es das war –, aber um Billy sorgte sie sich schier zu Tode. Er würde den Mund nicht halten. Wenn er meinte, dass die Armee Unrecht tat, würde er es ansprechen, und dann bekam er möglicherweise Scherereien.
Die Calvary Gospel Hall war voll: Die Labour-Partei, der die Unabhängige Arbeiterpartei seit 1906 angeschlossen war, hatte während des Krieges an Popularität gewonnen. Zum Teil lag es daran, dass der Parteiführer, Arthur Henderson, Mitglied von Lloyd Georges Kriegskabinett gewesen war. Henderson hatte im Alter von zwölf Jahren in einer Lokomotivenfabrik angefangen, und seine Leistungen als Minister waren der Todesstoß für die Behauptung der Konservativen gewesen, Arbeitern könne man keine Regierungsaufgaben anvertrauen.
Ethel und Bernie saßen neben Jock Reid, dem rotgesichtigen Glasgower, der Bernies bester Freund gewesen war, ehe dieser geheiratet hatte. Versammlungsleiter war Dr. Greenward. Der wichtigste Punkt auf der Tagesordnung bestand in der nächsten Parlamentswahl. Gerüchten zufolge wollte Lloyd George eine landesweite Wahl abhalten lassen, sobald der Krieg zu Ende war. Aldgate brauchte einen Labour-Kandidaten, und Bernie war Favorit.
Er wurde zur Wahl vorgeschlagen, und der Vorschlag fand Unterstützung. Jemand schlug zwar Dr. Greenward als Gegenkandidaten vor, doch der Arzt erklärte, er wolle lieber bei der Medizin bleiben.
Jayne McCulley erhob sich. Sie war in die Partei eingetreten, nachdem Ethel und Maud den Protest gegen den Entzug ihres Trennungsgeldes organisiert hatten und Maud von einem Polizisten zum Gefängnis geschleppt worden war. Jayne sagte: »Ich hab in der Zeitung gelesen, bei der nächsten Wahl
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