Sturz der Titanen
Grigoris Familie sich nicht heimlich davonschleichen; kaum waren sie zum Vorschein gekommen, gaben die Soldaten ihren Pferden die Sporen.
Maminka rannte um das Haus herum, scheuchte die Hühner auf und erschreckte die Ziege so sehr, dass das Tier sich losriss und ebenfalls davonsprang. Maminka und Grigori liefen auf die Bäume zu und wären vielleicht entkommen, hätte der Junge nicht plötzlich bemerkt, dass Großmutter nicht dabei war. Er blieb stehen und riss sich los. »Wir haben Babuschka vergessen!«, kreischte er.
»Sie kann nicht rennen!«, rief seine Mutter.
Das wusste Grigori. Seine Großmutter konnte ja kaum gehen. Trotzdem wollte er sie nicht einfach zurücklassen.
»Grischka, komm endlich!«, rief Maminka und lief voraus, den kleinen Lew noch immer auf den Armen, der inzwischen vor Angst heulte. Grigori folgte ihnen, doch die Verzögerung sollte sich als tödlich erweisen. Die Reiter kamen näher, einer von links, der andere von rechts. Der Weg zum Wald war abgeschnitten. Verzweifelt floh Maminka in den Dorfteich, doch ihre Füße versanken im Schlamm, und sie geriet ins Stolpern und fiel ins Wasser.
Die Soldaten lachten grölend.
Sie packten Maminka, fesselten ihr die Hände und führten sie zurück. »Nehmt auch die Jungen mit«, sagte der Bezirkshauptmann. »Befehl vom Fürsten.«
Grigoris Vater war zusammen mit zwei anderen Männern schon vor einer Woche abgeholt worden, und gestern hatten die Zimmerleute des Fürsten Andrej auf der Nordwiese ein Schafott errichtet. Als Grigori seiner Mutter nun auf die Wiese folgte, sah er drei Männer unter dem Galgen stehen. Sie waren an Händen und Füßen gefesselt; Schlingen lagen um ihre Hälse. Neben dem Schafott stand ein Pope.
Maminka schrie: »Nein!«, und zerrte an dem Seil, mit dem ihre Hände gefesselt waren. Ein Kavallerist schlug ihr den Gewehrkolben ins Gesicht. Sofort stellte sie jede Gegenwehr ein, schluchzte nur noch kläglich.
Grigori wusste, was nun kam: Sein Vater würde hier sterben. Er hatte schon einmal gesehen, wie Pferdediebe gehenkt worden waren. Aber das war etwas ganz anderes gewesen, denn die Männer hatte er nicht gekannt. Nun aber packte ihn ein solches Entsetzen, dass sein ganzer Körper wie taub war.
Aber vielleicht geschah ja irgendetwas, das die Hinrichtung doch noch verhinderte. Vielleicht griff der Zar ein. Hieß es nicht, er wache über sein Volk? Oder es kam vielleicht ein rettender Engel vom Himmel.
Grigoris Gesicht fühlte sich feucht an, und er merkte, dass er weinte. Er und seine Mutter wurden gezwungen, sich vor das Schafott zu stellen. Die restlichen Dörfler versammelten sich ebenfalls. So wie Maminka waren auch die Ehefrauen der anderen beiden Männer mit gefesselten Händen hierhergezerrt worden. Sie schrien und weinten; ihre Kinder klammerten sich an ihre Röcke und heulten vor Angst.
Auf dem Feldweg hinter dem Weidetor stand eine geschlossene Kutsche. Das farblich aufeinander abgestimmte Gespann graste friedlich am Wegesrand. Als alle versammelt waren, stieg eine Gestalt mit schwarzem Bart und langem dunklem Mantel aus der Kutsche. Es war Fürst Andrej. Er drehte sich um und reichte seiner kleinen Schwester, Fürstin Bea, die Hand. Zum Schutz gegen die Morgenkälte hatte die Fürstin sich einen Pelz um die Schultern gelegt. Mit ihrer blassen Haut und dem hellen Haar sah sie wunderschön aus. So hatte Grigori sich immer einen Engel vorgestellt, nur dass Bea in Wirklichkeit ein Teufel zu sein schien.
Der Fürst wandte sich an die Dorfbewohner. »Diese Weide gehört der Fürstin Bea«, rief er. »Niemand darf hier ohne ihre Erlaubnis sein Vieh weiden lassen. Wer es trotzdem tut, stiehlt das Gras der Fürstin.«
Ein Raunen ging durch die Reihen der versammelten Dörfler. Ungeachtet dessen, was man ihnen jeden Sonntag in der Kirche erzählte, glaubten sie nicht an diese Art von Besitz. Für sie galten ältere, bäuerliche Moralvorstellungen, nach denen das Land den Leuten gehörte, die es bearbeiteten.
Der Fürst deutete zu den drei Männern auf dem Schafott. »Diese Narren haben gegen das Gesetz verstoßen, und das mehr als nur einmal!« Seine Stimme klang schrill vor Wut wie die eines Kindes, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte. »Und das Allerschlimmste ist, dass sie andere aufgewiegelt haben, es ihnen gleichzutun, indem sie behaupteten, die Fürstin habe kein Recht, sie daran zu hindern, und dass Felder, die der Besitzer brachliegen lässt, den Bauern gegeben werden sollten!« Grigori hatte oft
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