Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
riesiges Areal entlang der Ostseeküste. Viele Arbeiter wohnten in der Fabrik; einige hausten in Baracken, während andere neben ihren Maschinen schliefen. Deshalb rannten so viele Kinder auf dem Fabrikgelände herum.
    Grigori gehörte zu denen, die außerhalb des Fabrikgeländes wohnten. In einer sozialistischen Gesellschaft, da war er sicher, würde man Häuser für die Arbeiter schon beim Bau der Fabrik einplanen, doch wegen des willkürlichen russischen Kapitalismus hatten Tausende von Menschen keine Bleibe. Grigori wurde gut bezahlt; trotzdem hauste er in einem winzigen Zimmer, eine halbe Stunde zu Fuß von der Fabrik entfernt. In Buffalo, das wusste er, hatten die Arbeiter in ihren Häusern Strom und fließendes Wasser. Manche, hatte man ihm erzählt, besaßen sogar Telefone. Aber das kam ihm genauso lächerlich vor wie der Spruch, in Amerika seien die Straßen mit Gold gepflastert.
    Das Erscheinen von Fürstin Bea in der Fabrik hatte Grigori wieder in die Kindheit zurückgeführt. Während er sich nun seinen Weg durch die vereisten Straßen suchte, kämpfte er gegen die unerträgliche Erinnerung an, die ihr Anblick in ihm wachgerufen hatte, doch es gelang ihm nicht. Er dachte an die Holzhütte, in der er damals gehaust hatte, und sah wieder die Zimmerecke mit den Ikonen und die Schlafecke gegenüber, wo er sich nachts hingelegt hatte, oft mit einer Ziege oder einem Kalb neben sich. An eines erinnerte Grigori sich besonders gut, obwohl es ihm damals gar nicht so bewusst gewesen war: an den Geruch. Er kam vom Ofen, von den Tieren, vom schwarzen Rauch der Petroleumlampe und vom selbst angepflanzten Tabak, aus dem sein Vater sich mit Zeitungspapier Zigaretten drehte. Die Fensterrahmen waren mit Lumpen zugestopft, um die Kälte auszusperren, und dementsprechend war die Luft. In seiner Vorstellung konnte Grigori diese Luft noch immer riechen, und voller Wehmut dachte er an die Tage vor dem Albtraum, als sein Leben noch sicher gewesen war.
    Nicht weit von der Fabrik entfernt sah er etwas, das ihn innehalten ließ. Im Licht einer Straßenlaterne befragten zwei Polizisten in schwarzen Uniformen mit grünem Besatz eine junge Frau. Deren selbst gewebter Mantel und die Art, wie sie ihr Kopftuch im Nacken zusammengebunden hatte, ließen vermuten, dass es sich um eine Bäuerin handelte, die gerade erst in die Stadt gekommen war. Auf den ersten Blick schätzte Grigori sie auf sechzehn. In dem Alter waren er und Lew zu Waisen geworden.
    Der Stämmigere der beiden Polizisten sagte irgendetwas und tätschelte dem Mädchen die Wange. Sie zuckte zusammen, worauf der andere Polizist lachte. Grigori erinnerte sich, wie brutal die Beamten ihn als sechzehnjährigen Waisen behandelt hatten. Seine Wut auf die Männer und sein Mitgefühl für das Mädchen wurden übermächtig. Wider besseres Wissen näherte er sich der kleinen Gruppe und rief dem Mädchen zu: »Wenn du den Weg zu den Putilow-Werken suchst, den kann ich dir zeigen.«
    Der stämmige Polizist lachte. »Sieh zu, dass der Kerl verschwindet, Ilja«, sagte er zu seinem Kumpanen.
    Ilja war ein hässlicher Kerl mit kleinem Kopf und boshaftem Gesicht. »Verschwinde, du Abschaum«, knurrte er.
    Grigori hatte keine Angst. Er war groß, und seine Muskeln waren von der harten Arbeit gestählt. Seit seiner Kindheit war er immer wieder in Straßenkämpfe verwickelt gewesen, und seit Jahren hatte er keine Niederlage mehr einstecken müssen. Doch es war nicht klug, sich mit der Polizei anzulegen. »Ich bin Vorarbeiter im Werk«, sagte er zu dem Mädchen. »Wenn du eine Anstellung suchst, kann ich dir vielleicht helfen.«
    Das Mädchen blickte ihn dankbar an.
    »Ein Vorarbeiter ist gar nichts«, sagte der stämmige Polizist und schaute Grigori zum ersten Mal direkt an. Erst jetzt erkannte Grigori das runde, streitlustige, dümmliche Gesicht im gelben Licht der mit Petroleum betriebenen Straßenlaterne. Der Mann hieß Michail Pinsky und war der hiesige Reviervorsteher. Grigori verließ der Mut. Es war verrückt, einen Streit mit dem Reviervorsteher vom Zaun zu brechen; aber er war schon zu weit gegangen, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen.
    Das Mädchen meldete sich leise zu Wort. Ihre Stimme verriet Grigori, dass sie eher zwanzig war als sechzehn. »Danke, ich werde dann mit Ihnen gehen, Herr«, sagte sie zu Grigori. Sie war hübsch, das Gesicht zart, die Lippen voll.
    Grigori schaute sich um. Unglücklicherweise war sonst niemand zu sehen; er hatte die Fabrik ein paar Minuten nach

Weitere Kostenlose Bücher