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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Aber es hat nicht funktioniert.«
    In eine weiße Robe gewandet und mit einem großen Kruzifix in der Hand führte Gapon die Prozession über den Boulevard zum Narwa-Tor. Grigori, Lew und Maminka gingen direkt neben ihm. Vater Gapon ermutigte Familien, möglichst weit vorne zu gehen, denn er war der festen Überzeugung, die Soldaten würden niemals auf Kinder schießen. Hinter ihnen trugen zwei Nachbarn ein großes Porträt des Zaren. Gapon sagte immer, der Zar sei der Vater seines Volkes. Er würde ihre Rufe erhören, seine hartherzigen Minister überstimmen und den gerechtfertigten Forderungen der Arbeiter nachkommen. »Jesus Christus hat gesagt: ›Lasset die Kindlein zu mir kommen.‹ Genau das sagt auch der Zar!«, rief Gapon, und Grigori glaubte ihm.
    Sie hatten das Narwa-Tor, einen gewaltigen Triumphbogen mit sechs riesigen Pferden, fast erreicht, als die Demonstranten unvermittelt von einer Kavallerieschwadron angegriffen wurden, als wären die kupfernen Rösser auf dem Tor zu donnerndem Leben erwacht.
    Einige Demonstranten ergriffen die Flucht, andere wurden von den Pferden niedergetrampelt. Grigori, Maminka und Lew erstarrten vor Entsetzen.
    Die Soldaten zogen ihre Waffen nicht. Sie schienen die Leute nur verjagen zu wollen. Aber es waren zu viele Arbeiter, und so rissen die Soldaten bald darauf ihre Pferde herum und ritten davon.
    Die Demonstranten zogen weiter, doch die Stimmung hatte sich dramatisch verändert. Grigori hatte mehr und mehr das Gefühl, dass dieser Tag nicht friedlich enden würde. Er dachte an die Mächte, die ihnen gegenüberstanden: den Adel, die Minister und die Armee. Wie weit würden sie gehen, um zu verhindern, dass die Demonstranten mit dem Zar sprachen?
    Die Antwort auf diese Frage bekam er fast augenblicklich. Grigori schaute über die Köpfe der Menschen vor sich und sah bewaffnete Infanteristen. Mit Schaudern erkannte er, dass die Soldaten in Feuerstellung gegangen waren.
    Der Zug wurde immer langsamer, als den Leuten klar wurde, was ihnen drohte. Vater Gapon, der noch immer direkt neben Grigori ging, drehte sich um und rief den Nachfolgenden zu: »Der Zar wird niemals zulassen, dass seine Armee auf sein geliebtes Volk schießt!«
    Ein lautes Geräusch war zu vernehmen, das sich wie das Prasseln von Hagel auf einem Blechdach anhörte: Die Soldaten hatten eine Salve abgefeuert. Der beißende Gestank von Pulverrauch stieg Grigori in die Nase. Angst erfasste ihn.
    Der Pope rief: »Habt keine Furcht! Sie schießen nur in die Luft!«
    Eine weitere Salve wurde abgefeuert; wieder wurde niemand getroffen. Trotzdem drehte sich Grigori vor Angst der Magen um.
    Dann wurde zum dritten Mal geschossen, und diesmal waren die Schüsse gezielt. Grigori hörte Schreie und sah Menschen zu Boden fallen. Panisch schaute er sich um, als Maminka ihn auch schon an der Schulter packte und schrie: »Runter!« Grigori ließ sich fallen. Dann stieß Maminka auch Lew neben ihm zu Boden und warf sich über sie beide.
    Wir werden sterben, dachte Grigori, und sein Herz schlug lauter, als die Gewehre krachten.
    Das Schießen ging erbarmungslos weiter, ein albtraumhaftes Geräusch, das man unmöglich verdrängen konnte. Als immer mehr Leute in Panik davonrannten, wurde Grigori von schweren Stiefeln getroffen, doch Maminka schützte seinen Kopf vor den Tritten. Zitternd lagen sie im Schnee, während über ihnen das Schießen, Schreien und Stöhnen weiterging.
    Dann verstummte das Krachen der Gewehre. Grigori hob den Kopf, wagte einen vorsichtigen Blick. Die Menschen flohen in alle Richtungen und riefen einander zu, doch das Rufen wurde immer leiser. »Steht auf, rasch«, drängte Maminka. Sie und ihre Söhne rappelten sich auf und eilten von der Straße, sprangen über reglose Körper und rannten an blutenden Verwundeten vorbei. Sie erreichten eine Nebenstraße und wurden langsamer. Keuchend sagte Lew zu Grigori: »Ich hab mir in die Hose gemacht. Sag Maminka nichts davon …«
    Maminka kochte vor Wut. »Wir werden mit dem Zaren sprechen!«, rief sie so laut und entschlossen, dass die Leute stehen blieben und auf ihr breites Bauerngesicht schauten. Ihre kräftige Stimme hallte über die Straße. »Sie können uns nicht aufhalten! Wir müssen zum Winterpalast!« Ein paar Leute jubelten, andere nickten bloß. Lew brach in Tränen aus.
    Und jetzt, neun Jahre später, fragte Katherina: »Warum hat sie das getan? Sie hätte ihre Kinder nach Hause bringen sollen, in Sicherheit.«
    »Maminka hat immer gesagt, sie will

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