Sturz der Titanen
bewundernd. Gerade erst war sie von einem Polizisten zusammengeschlagen worden, und trotzdem dachte sie nur daran, eine Stelle zu bekommen. »Die Verwaltung hat geschlossen. Ich habe das nur gesagt, um die Polizisten zu verwirren. Aber morgen früh kann ich dich hinbringen.«
»Ich weiß nicht, wo ich schlafen soll.« Katherina warf Grigori einen verhaltenen Blick zu, den er nicht so recht deuten konnte. Bot sie sich ihm an? Viele Bauernmädchen, die in die Stadt kamen, taten das früher oder später. Doch ihr Blick konnte auch das genaue Gegenteil bedeuten: dass sie nur ein Bett wollte, aber nicht bereit war, dafür mit sexuellen Gefälligkeiten zu bezahlen.
»In dem Haus, wo ich wohne, gibt es ein Zimmer, das sich mehrere Frauen teilen«, sagte Grigori. »Sie schlafen zu dritt in einem Bett, aber sie werden schon ein bisschen Platz für dich machen.«
»Wie weit ist es von hier?«
Grigori deutete auf eine Straße, die an den Gleisen entlangführte. »Gleich da drüben.«
»Also gut.« Katherina nickte.
Grigori bewohnte ein Hinterzimmer im ersten Stock. Das schmale Bett, das er sich mit Lew teilte, stand an der Wand. Es gab einen Ofen mit einem Kochfeld, einen Tisch und zwei Stühle neben dem Fenster, von dem aus man auf die Gleise schauen konnte. Eine umgedrehte Transportkiste diente als Nachttisch; darauf standen ein Krug und eine Waschschüssel.
Katherina ließ den Blick durchs Zimmer schweifen, nahm alles in sich auf und fragte: »Gehört das alles Ihnen allein?«
»Nein, so reich bin ich nicht. Ich teile mir das Zimmer mit meinem Bruder. Er kommt später.«
Katherina schaute nachdenklich drein. Vielleicht hatte sie Angst, Grigori könnte von ihr verlangen, mit ihm und seinem Bruder zu schlafen. Um sie zu beruhigen, sagte Grigori: »Soll ich dich den Frauen im Haus vorstellen?«
»Können wir das später machen?« Katherina setzte sich auf einen der beiden Stühle. »Lassen Sie mich bitte erst ein bisschen ausruhen, ja?«
»Natürlich.« Das Holz lag im Ofen und wartete nur darauf, angezündet zu werden. Grigori bereitete es jeden Tag vor, bevor er morgens zur Arbeit ging.
Er hielt ein Streichholz an den Zunder, als unvermittelt ein Donnern und Rumpeln zu hören war. Katherina riss erschrocken die Augen auf. »Das ist nur ein Zug«, erklärte Grigori. »Wir sind hier direkt an den Gleisen.«
Er goss Wasser aus dem Krug in die Schüssel und stellte sie auf die Kochplatte, um das Wasser zu erhitzen. Dann setzte er sich Katherina gegenüber und schaute sie an. Sie hatte glattes blondes Haar und blasse Haut. Zuerst hatte er sie für hübsch gehalten; nun sah er, dass sie eine Schönheit war. Sie hatte etwas Tatarisches an sich, was auf eine sibirische Herkunft hindeutete, und ihr Gesicht zeugte von einem starken Charakter. Ihr breiter Mund war verführerisch und entschlossen zugleich, und ihre blaugrünen Augen strahlten einen eisernen Willen aus. Von Pinskys brutalem Hieb schwollen ihre Lippen immer noch an.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Grigori.
Sie strich sich mit den Händen über Schultern, Rippen, Hüfte und Schenkel. »Mir tun alle Knochen weh«, sagte sie. »Aber Sie haben diesen Kerl von mir heruntergerissen, bevor er mir richtig wehtun konnte.«
Es gefiel Grigori, dass sie sich nicht in Selbstmitleid erging. »Sobald das Wasser warm ist«, sagte er, »wasche ich dir das Blut ab.«
Er verwahrte sein Essen in einem Blechkasten. Nun holte er einen Schinkenknochen heraus und warf ihn in einen Topf; dann goss er Wasser aus einem Krug dazu. Anschließend wusch er eine Steckrübe und schnitt sie in den Topf. Katherina beobachtete ihn erstaunt. »Hat Ihr Vater gekocht?«
»Nein«, antwortete Grigori, den es erneut in die Kindheit verschlug, als er elf Jahre alt gewesen war. Diesmal jedoch konnte er sich den albtraumhaften Erinnerungen an Fürstin Bea nicht widersetzen. Er stellte den Topf auf den Tisch, setzte sich auf die Bettkante und vergrub das Gesicht in den Händen, von Trauer überwältigt. »Nein«, wiederholte er, »mein Vater hat nicht gekocht.«
Sie kamen bei Sonnenaufgang: der Bezirkshauptmann und sechs Kavalleristen. Kaum hatte Maminka den Hufschlag gehört, schnappte sie sich Lew. Mit seinen sechs Jahren war er schon schwer, aber seine Mutter hatte breite Schultern und starke Arme. Sie packte Grigoris Hand und rannte aus dem Haus. Die Reiter wurden von den Dorfältesten geführt, die sich am Dorfrand mit ihnen getroffen haben mussten. Weil die Hütte nur eine Tür hatte, konnte
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