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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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geschwollenen Lippen berührte.
    »Tut mir leid«, sagte Grigori.
    »Schon gut.«
    Grigori sah, dass die Abschürfungen bereits verheilten. Katherina hatte die ebenmäßigen weißen Zähne eines jungen Mädchens. Er wischte ihr den Mundwinkel ab, beugte sich näher heran und spürte ihren warmen Atem auf seinem Gesicht.
    Als er fertig war, überkam ihn eine seltsame Enttäuschung, als hätte er auf etwas gewartet, das nicht geschehen war. Er lehnte sich zurück und wusch das Handtuch im Wasser aus, das inzwischen rot war von Katherinas Blut.
    »Danke«, sagte sie. »Sie haben heilende Hände.«
    Grigoris Herz schlug heftig. Es war nicht das erste Mal, dass er jemandem die Wunden auswusch, aber so war es noch nie gewesen. Es war schwindelerregend. Grigori hatte das Gefühl, als würde er gleich etwas Dummes tun.
    Er öffnete das Fenster und kippte das Wasser hinaus. Im Schnee auf dem Hinterhof blieb ein hellroter Fleck zurück.
    Für einen Moment kam Grigor der verrückte Gedanke, Katherina könne nur ein Traum sein. Er drehte sich um und erwartete beinahe, ihren Stuhl leer zu sehen. Aber da war sie und schaute ihn mit ihren blaugrünen Augen an. Er wünschte sich, sie würde nie mehr fortgehen.
    Hatte er sich verliebt?
    Diese Frage hatte Grigori sich noch nie gestellt. Meist war er viel zu sehr damit beschäftigt, auf Lew aufzupassen, als dass er Zeit gehabt hätte, Frauen hinterherzujagen. Allerdings hatte er seine Erfahrungen; er hatte bereits mit drei Frauen geschlafen, aber jedes Mal war es ein freudloses Erlebnis gewesen – vielleicht, weil er für keine der Frauen etwas empfunden hatte.
    Nun aber wünschte er sich mehr als alles andere, bei Katherina auf dem schmalen Bett an der Wand zu liegen, ihr verletztes Gesicht zu küssen und ihr zu sagen …
    … dass er sie liebte.
    Sei nicht dumm, schalt er sich. Du hast sie erst vor einer Stunde kennengelernt. Sie will nicht Liebe von dir, sondern Geld, eine Arbeit und einen Platz zum Schlafen.
    Er schlug das Fenster zu.
    Katherina sagte lächelnd: »Sie kochen für Ihren Bruder, und Sie haben sanfte Hände, und doch können Sie einen Polizisten mit einem Schlag zu Boden strecken.«
    Grigori wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
    »Und Sie haben mir erzählt, wie Ihr Vater gestorben ist«, fuhr sie fort. »Ihre Mutter ist ebenfalls gestorben, als Sie noch klein waren, nicht wahr?«
    »Woher weißt du das?«
    Katherina zuckte mit den Schultern. »Weil Sie ihren Platz einnehmen mussten.«

    Maminka starb am 9. Januar 1905, nach dem alten russischen Kalender gerechnet. Es war der Sonntag, der später als »Blutsonntag« bekannt werden sollte.
    Grigori war sechzehn, Lew elf. Wie Maminka arbeiteten auch die beiden Jungen in den Putilow-Werken. Grigori war Lehrling in der Stahlschmelze, und Lew arbeitete als Kaminfeger. In diesem Januar streikten alle drei – zusammen mit mehr als hunderttausend weiteren Fabrikarbeitern in Sankt Petersburg – für einen Achtstundentag und das Recht, Gewerkschaften zu gründen. Am Morgen des neunten Tages zogen sie ihre besten Sachen an und stapften Hand in Hand durch den Schnee zu einer Kirche in der Nähe der Putilow-Werke. Nach dem Gottesdienst schlossen sie sich Tausenden von Arbeitern an, die aus sämtlichen Richtungen zum Winterpalast marschierten.
    »Warum müssen wir denn so weit laufen?«, jammerte der kleine Lew. Er hätte lieber in einer Gasse Fußball gespielt.
    »Wegen deinem Vater«, antwortete Maminka. »Weil die Fürsten und Fürstinnen mörderische Bestien sind. Weil wir den Zaren und alle, die so sind wie er, stürzen müssen. Weil ich nicht eher ruhen werde, bis Russland eine Republik ist.«
    Es war ein wunderschöner Tag in Sankt Petersburg, kalt, aber trocken, und Grigoris Gesicht wurde von der Sonne genauso gewärmt wie sein Herz vom Gefühl der Kameradschaft im Kampf für eine gerechte Sache.
    Ihr Anführer, Vater Gapon, sah mit seinem langen Bart und den flammenden Augen wie ein alttestamentarischer Prophet aus. Aber ein Revolutionär war er nicht: In seinen von der Regierung genehmigten Selbsthilfevereinen begann jede Versammlung mit dem Vaterunser und endete mit der Nationalhymne.
    »Heute weiß ich, weshalb der Zar Leute wie Gapon hat gewähren lassen«, sagte Grigori jetzt, neun Jahre später, in seinem Zimmer an den Gleisen zu Katherina. »Es war eine Art Sicherheitsventil, um den Druck der Massen, die nach gesellschaftlichen Reformen strebten, zu mildern und in harmlose Teegesellschaften zu lenken.

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