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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Schächte. Ein Lüfter presste die Luft in den einen Schacht, während der zweite Schacht das »Wetter« – also die Luft und sämtliche Gase in der Grube – aus dem anderen heraussaugte. Oft trugen die Schächte eigenwillige Namen; in Aberowen hießen sie »Pyramus« und »Thisbe«. Als Price die Jungen zum Pyramus führte, wehte Billy die warme Luft entgegen, die aus der Grube hinaufgeblasen wurde.
    Im Jahr zuvor war es Billy und Tommy gelungen, einen Blick in die unergründlichen Tiefen des Schachts zu werfen. Am Ostermontag, als niemand arbeitete, hatten sie sich am Wachmann vorbeigeschlichen, waren über die Brache zu den Tagesbauten geflitzt und über den Absperrzaun geklettert. Die Schachtöffnung war nicht vollständig von der Kaue abgedeckt, und so legten die Jungen sich auf den Bauch und spähten über den Rand der Grube in die Tiefe, starrten gebannt in das grauenhafte Loch. Billy drehte sich der Magen um. Die Schwärze erschien unendlich. Bei dem Gedanken, dass er irgendwann hier würde einfahren müssen, packte ihn eisiges Entsetzen. Er warf einen Stein in den Schacht; dann lauschte er den Geräuschen, als der Stein von der hölzernen Führung für den Korb und der Backsteinauskleidung des Schachts abprallte, während er in die Tiefe sauste. Es schien unendlich lange zu dauern, bis das leise, ferne Platschen zu vernehmen war, als der Stein in das Wasser des Grubensumpfs fiel.
    Jetzt, mehr als ein Jahr später, sollte Billy den gleichen Weg nehmen wie der Stein. Bei diesem Gedanken wurde ihm mulmig, doch er durfte sich seine Angst nicht anmerken lassen. Sei ein Mann!, ermahnte er sich, auch wenn er sich ganz und gar nicht so fühlte. Doch sich zu blamieren wäre das Schlimmste gewesen. Das machte ihm noch mehr Angst als der Tod.
    Nun konnte Billy das Schiebegatter sehen, das den Schacht verschloss. Darunter war gähnende Leere, denn der Korb war auf dem Weg nach oben. Auf der anderen Seite sah er die Fördermaschine, von der die großen Seilscheiben angetrieben wurden. Zischend schoss Dampf aus dem ratternden, schnaufenden Ungetüm; in den Laufrinnen ächzten die Stahlseile, und die Luft roch nach heißem Öl.
    Begleitet von lautem Rasseln und Klirren erschien der leere Korb hinter dem Gatter. Der Einweiser, der den Korb beaufsichtigte, schob die Absperrung beiseite. Rhys Price stieg in den leeren Korb; die beiden Jungen folgten ihm. Dann stiegen noch dreizehn Bergleute zu, denn der Korb konnte sechzehn Mann befördern. Der Einweiser knallte das Gatter zu.
    Nichts geschah. Billy fühlte sich mit einem Mal schrecklich verletzlich. Auch wenn der Korb an einem Stahlseil hing, war es nicht vollkommen sicher: Jeder wusste, dass 1902 das Förderseil von Tirpentwys gerissen war, worauf der Korb in den Grubensumpf stürzte. Acht Männer waren dabei unter dem Berg geblieben.
    Billy nickte dem Schlepper neben sich zu, Harry »Suet« Hewitt, ein Junge mit einem Gesicht wie aus Pudding, nur drei Jahre älter als Billy, aber einen Fuß größer. Harry hatte es nie über die dritte Klasse – die Zehnjährigen – hinaus geschafft; er war so oft sitzen geblieben, bis er alt genug war, im Bergwerk anzufangen.
    Eine Glocke klingelte zum Zeichen, dass der Anschläger am Schachtende sein Gatter geschlossen hatte. Der Einweiser zog einen Hebel, und eine andere Klingel war zu hören. Die Fördermaschine zischte laut; dann gab es einen heftigen Schlag.
    Der Korb stürzte ins Leere.
    Billy schrie entsetzt auf, als seine Füße sich vom Boden hoben.
    Die Kumpel lachten grölend. Sie wussten, dass es Billys erste Grubenfahrt war, und hatten auf genau diese Reaktion gewartet. Zu spät bemerkte Billy, dass alle anderen sich an den Stangen des Korbs festhielten, doch es minderte seine Angst kein bisschen. Er biss die Zähne zusammen, um nicht weiterzuschreien, während es in rasender Fahrt in die Tiefe ging.
    Endlich griff die Bremse, und die Geschwindigkeit des Falles verringerte sich. Billy kam sich mit einem Mal doppelt so schwer vor; seine Füße wurden auf den Boden des Korbs gepresst. Er klammerte sich an einer Stange fest und versuchte, sein Zittern zu unterdrücken, während Scham und Wut seine Furcht verdrängten. Er musste kräftig schlucken, um die Tränen zurückzuhalten, wobei er Suet ins grinsende Pfannkuchengesicht blickte. »Mach deine große Klappe zu, Hewitt, du Spatzenhirn!«, rief Billy, um den Höllenlärm zu übertönen.
    Suets Miene schlug augenblicklich um. Er funkelte Billy wütend an, doch die anderen

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