Sturz in den Tod (German Edition)
einen Job für Nina angenommen, und er wollte ihn
ordentlich machen. Für Nina. Auch wenn sie es ihm, wieder einmal, nicht leicht
machte.
VIER
Nina fand in Jans Badezimmerschrank Aspirin. Sie nahm zwei
Tabletten und schluckte sie mit Wasser aus dem Hahn hinunter. Sie besah ihr
Gesicht im Spiegel und konnte kaum fassen, wie gut sie so viel Schnaps vertrug.
Nach ein paar Gläsern Wein wäre es ihr heute Morgen wohl schlechter gegangen.
Sie schlich in Jans Wohnzimmer und nahm ihre Jacke, die sie letzte
Nacht achtlos auf den Boden geworfen hatte. Auf dem Tisch standen halb volle
Gläser. Nicht zu glauben, dass sie, nachdem sie aus der Kneipe gekommen waren, noch
versucht hatten weiterzutrinken. Nina hatte sich total nüchtern gefühlt und
unbedingt nun noch mit Jan reden wollen.
Sie hatten gestritten, weil Nina nicht nur Jans rechtlichen Beistand
wollte, sondern außerdem verlangte, dass er ihr helfen sollte, Frau Bergmanns
Mörder zu finden. Jan fand ihr Ansinnen absurd. Nina nicht. Noch weniger lustig
fand sie, mit einem Mord in Zusammenhang gebracht zu werden. Sie wollte, dass
Jan einen Detektiv beauftragte. Jan lachte sie aus. Mitten im Streit war Jan
plötzlich nach einem Schluck aus seinem Weinglas in sich zusammengesunken und
hatte reglos dagesessen. Als hätte ihn jemand k. o. geschlagen. Nina stieß ihn
leicht an. Jan fiel zur Seite.
Mit großer Mühe bekam sie ihn ins Bett und zog ihm die Schuhe aus.
Sie legte sich neben ihn. Immer wieder prüfte sie, ob er noch atmete. Als Jan
leise zu schnarchen begann, schlief auch Nina ein. Irgendwann musste er sich
Jeans und Pullover ausgezogen haben.
Nina warf einen Blick ins Schlafzimmer. Jan lag auf dem Bauch und
atmete gleichmäßig. Seine Wirbelsäule zeichnete sich markant in seinem glatten
Rücken ab. Er hatte sich seit dem Sommer vor über fünfzehn Jahren kaum
verändert. Der Sommer nach dem Abitur, in dem sie sich täglich zum Surfen
trafen. Der Sommer, in dem sie kaum die Hände voneinander lassen konnten. Nach
diesem Sommer gingen sie jeder seiner Wege, Nina nach Hamburg, Jan nach Berlin.
Der Kontakt brach schließlich ab.
Mit seinem durchtrainierten Körper und den von der Sonne
ausgeblichenen längeren Haaren sah Jan immer noch aus wie ein Surfer. Ein
Surfer, der jetzt im Alltag Anzug trug.
Nina gestand sich ein, dass sie in der letzten Nacht nur mit zu Jan
gegangen war, weil sie mit ihm hatte schlafen wollen.
Sie verließ leise die Wohnung.
Es war gegen sieben. Kaum jemand war unterwegs. Von Weitem sah sie
die blonde Frau am Strand, die zu jeder Jahreszeit jeden Morgen im Meer
schwamm. Einen Moment lang überlegte Nina, es der Frau gleichzutun, weil es ihr
sicherlich guttun würde, in das kalte Wasser zu tauchen. Doch sie musste
dringend nach Hause. Ihre Mutter würde schon auf sie warten, denn heute war
unter anderem Mieterwechsel in der Wohnung von Herrn Schadt im Maritim. Nina
musste putzen.
***
Sie hatte mit ihrer Suche in Berlin
angefangen, denn dort hatte alles begonnen. Sie war in Berlin geboren, so stand
es in ihrer Geburtsurkunde. »Romy Müller, am 14. April 1963 geboren in
Berlin-Charlottenburg.« Unter »Vater« stand »unbekannt«, unter »Mutter«:
»Müller, Elisabeth«. Romy suchte in Berlin nach Elisabeth Müller. Müllers gab
es viele. Elisabeths siebzehn, doch keine von ihnen war ihre Mutter, fand Romy
heraus. Die Geburtsurkunde war das Einzige über ihre Herkunft, das sie als
Nachweis besaß, als sie mit sechzehn Jahren das Heim verließ.
Als sie später ihre Vergangenheit recherchierte,
gab man im Heim vor, keine weiteren Unterlagen zu besitzen. Romy hörte auf,
nach ihrer Mutter zu suchen. Fing wieder an. Gab wieder auf. Bis zu dem
Schlaganfall, den sie in einer Zeit erlitt, in der Heime und Kirchen endlich
aufgrund des öffentlichen Drucks Akten aushändigen mussten.
Romy fand heraus, dass sie im Alter von zehn
Monaten in einem katholischen Heim für Kinder abgegeben worden war. Im Januar
1964. Von »Fräulein Elisabeth Müller«.
»Animierdame …«, stand auf einem der Zettel
in den Akten, mit Bleistift geschrieben, in Klammern gesetzt und mit drei
Pünktchen versehen. Es gab keinen Eintrag, der darauf hinwies, dass ihre Mutter
sie auch nur ein einziges Mal besucht hätte.
***
In der Hoffnung, ihre Mutter würde noch schlafen, schloss
Nina so leise wie möglich die Haustür auf. Sie hatte vor, die Schlüssel für die
Wohnungen zu holen, die sie heute reinigen sollte, und sofort wieder zu
verschwinden. Doch ihre
Weitere Kostenlose Bücher