Sturz in den Tod (German Edition)
im
Sommer am Strand. Wir hatten alle unsere Jahresstrandkörbe, die haben wir dann
zusammengestellt und unheimlich viel Spaß gehabt. Das ging ein paar Jahre so.
Ist nichts mehr von übrig. Ist alles schon lange her. Fast vierzig Jahre.«
Nina konnte sich kaum vorstellen, dass Herr Schadt einmal jung
gewesen war. Oder dass Frau Bergmann einmal jung gewesen war. Herr Schadt stand
aus seinem Sessel auf und kramte wieder in der Schrankwand, jetzt unter der
Tischwäsche. Er holte ein Album hervor und legte es auf den Tisch. Fotos von
ihm und seiner Frau und von der Clique im Maritim. Er tippte auf eine
wunderschöne Frau im Badeanzug mit Hut und Sonnenbrille.
»Die Elisabeth war die Schönste von allen – nach meiner Helga
natürlich. Immer vornehm, immer elegant. Aber wehe, wenn sie zu viel getrunken
hatte. Dann konnte sie auch anders. Dann hätte sie am liebsten auf dem Tisch
getanzt. Aber ihr Mann, der Anton, der hatte ein Auge auf sie, der hat immer
gut auf sie aufgepasst. Tolle Zeiten waren das. Kommen nicht mehr zurück. Geht
alles viel zu schnell vorbei. So wie das Leben.«
Herr Schadt kippte seinen Cognac hinunter. »Ein paar gibt es wohl
noch, die sich im Sommer am Strand treffen. Aber die reden wahrscheinlich nur
noch übers Wetter oder über ihre Krankheiten und ihre Enkel. Das interessiert
mich nicht.«
Nina strich mit dem Finger über die schöne junge Frau Bergmann auf
dem Foto.
»Jetzt werden sie im ganzen Haus vermutlich mal ein anderes Thema
haben. Den Tod von Elisabeth«, fügte Herr Schadt hinzu.
Nina kamen wieder die Tränen. Sie ging mit dem Bettbezug zurück ins
Schlafzimmer und lehnte die Tür so an, dass der alte Mann sie nicht mehr sehen
konnte.
***
Frau Tietchen schien nicht zu Hause zu sein. Nina klopfte
noch einmal. Vergebens. Sie beschloss, ihren Plan zu ändern und zunächst bei
Wrodes zu putzen, in der Hoffnung, danach Frau Tietchen in ihrer Wohnung
anzutreffen. Sie suchte in ihrer Tasche nach einem Stück Papier, um darauf eine
Nachricht zu hinterlassen. Hoffentlich war dieser alten Dame nicht auch etwas
zugestoßen, ging es Nina plötzlich durch den Kopf. Hoffentlich hatte sie
einfach nur den Termin vergessen, was allerdings ungewöhnlich wäre, denn Ninas
Mutter putzte seit vielen Jahren bei ihr, immer am gleichen Tag, zur gleichen
Zeit. Nina fand in ihrer Tasche einen alten Kassenbon von REWE und schrieb darauf, dass sie zwei Stunden später
wiederkommen werde.
Sie ging zum Fahrstuhl der fünfzehnten Etage. Der dicke, rot
gemusterte Teppich, die Grafiken mit Schiffsmotiven, die schweren Holztüren zu
den Apartments auf dem langen, im Dämmerlicht liegenden Gang, hinter denen
nichts zu hören war, alles kam ihr heute ungewöhnlich still vor. Wie verlassen.
Sie stellte sich neben den Fahrstühlen ans Fenster und sah hinaus. Die
»Passat«, der Priwall, die »Finnlines«, die gerade hinausfuhr, alles war so
vertraut und schien doch plötzlich fremd. Als würde Nina nicht mehr
hierhergehören. Sie hatte ein eigenes Leben in Hamburg. Es war keine gute Idee
gewesen, nach Travemünde zurückzukehren. Zu ihrer Mutter, von der sie sich
schon als Kind wie eine Fremde behandelt gefühlt hatte. Und jetzt war sie auch
noch in die Sache mit Frau Bergmann hineingeraten. Auch wenn die Polizei mit
ihren Verdächtigungen von Nina abließ, würde etwas an ihr hängen bleiben. Es
sei denn, man fand den wirklich Schuldigen.
Einer der Fahrstühle hielt, die Tür öffnete sich mit einem »ding,
ding«. Nina hoffte, dass Frau Tietchen aus dem Fahrstuhl treten würde, doch es
war ein jüngerer Mann mit Dreitagebart, den sie noch nie gesehen hatte. Er trug
ein lässiges Jackett, einen langen, bunt gestreiften Schal, das dunkelblonde,
schulterlange Haar war sorgfältig nach hinten gekämmt. Nina grüßte ihn, bevor
sie in den nun leeren Fahrstuhl trat. Der Mann sah kurz auf die Putzutensilien,
die Nina in den Händen hielt. Er grüßte nicht zurück. Ein Urlauber vielleicht,
der sich hier eingemietet hatte, überlegte Nina, während sie mit dem Lift neun
Stockwerke nach oben fuhr, oder ein zukünftiger Erbe, der kurzzeitig im
Apartment seiner noch lebenden Eltern wohnt.
Im vierundzwanzigsten Stockwerk klopfte sie an Wrodes Tür. Herr
Wrode öffnete, seine Frau stand dicht hinter ihm.
»Sollen wir dich wirklich reinlassen?«, fragte Herr Wrode.
Nina lachte, obwohl in Herrn Wrodes Frage kaum Ironie gelegen hatte,
und ging mit Wischmopp und Eimer an dem Ehepaar vorbei in die Wohnung. Die
beiden
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