Sturz in den Tod (German Edition)
Mutter saß bereits angezogen am Küchentisch. Vor sich
eine Tasse Kaffee, daneben die Lübecker Nachrichten. »Mord im Maritim«, stand
in großen Buchstaben auf der Titelseite.
»Wie konntest du mir das antun«, sagte die Mutter, ohne den Blick
auf Nina zu richten.
»Was antun?«, fragte Nina.
Die Mutter tippte auf die Seite drei, auf den letzten Absatz. Nina
beugte sich über die Zeitung und las: »Die Polizei hat direkt nach dem Tod der
Frau B. eine Verdächtige festgenommen, eine junge Frau, die bei der alten
Dame regelmäßig putzte …«
Ninas Knie wurden weich.
»Wie konntest du mir das nur antun«, wiederholte die Mutter, ohne
sie anzusehen.
»Du siehst doch, dass das Quatsch ist, was da steht. Die Polizei hat
mich gehen lassen!«
Die Mutter drehte die Zeitung um.
»Ja, aber das steht da nicht.« Nach einer Weile fügte sie hinzu:
»Ich weiß nicht, wie ich hier noch leben soll. Nach dieser Sache.«
»Welche Sache?«, schrie Nina fast. »Denkst du etwa, dass ich mit dem
Mord etwas zu tun habe?«
»Was ich denke, ist egal. Die anderen werden es denken.«
»Die anderen, immer die anderen! Dein ganzes Leben ging es darum,
was andere Leute denken könnten.«
Ninas Mutter erhob sich, fasste sich an den Rücken und verließ die
Küche.
Nina stand mitten im Raum. Sie drehte sich im Kreis – Spüle,
Küchentisch, Tür – und wusste nicht, wohin. Dann rannte sie ihrer Mutter
nach.
»Es ist doch völlig gleichgültig, was andere Menschen denken. Aber
du denkst hoffentlich nicht, dass ich etwas mit dem Tod von Frau Bergmann zu
tun habe.«
Die Mutter saß auf der Bettkante und hielt sich den Rücken. »Was ich
denke, ist egal. Du gehst irgendwann wieder weg, nach Hamburg. Und ich, ich
muss hier leben.«
In diesem Moment fiel ein Blitz durch die Fensterscheibe. Durch die
Gardine sah Nina, dass vor dem Haus jemand Fotos machte. Sie eilte die Treppen
hinunter, riss die Haustür auf und rannte auf den Fotografen zu. Bevor er noch
einmal abdrücken konnte, legte sie ihre Handfläche auf das Objektiv seiner
Kamera.
»Hauen Sie ab!«
Der Fotograf grinste. Vor Angst oder weil er sich genau eine solche
Situation erhofft hatte. Er schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr davon.
Nina sah zu beiden Seiten die Straße hinunter. Herr Wegemeister ließ
eine volle Tüte in seine Mülltonne fallen und klappte den Deckel mit einiger
Verzögerung zu, ohne Nina dabei aus den Augen zu lassen. Frau Müller lehnte auf
dem Kissen, das sie zum Lüften ins Fenster gelegt hatte. Nina zwang sich,
besonders gelassen ins Haus zurückzugehen. Als sie nach oben schaute, sah sie
ihre Mutter hinter der Gardine stehen.
***
Seit sie als junges Mädchen aus dem
Heim gekommen war, jobbte sie sich durch Berlins Kneipen. Im Déjà-Vu in
Charlottenburg arbeitete sie seit nun schon vier Jahren hinterm Tresen. Das kam
Romy ungewöhnlich lang, beinahe sesshaft vor. Der Job in dieser Kneipe gefiel
ihr, weil der Chef sich kaum blicken ließ, was ihr manchmal das Gefühl gab, sie
wäre die Chefin.
Nahe dem Eingang hing ein großer Flachbildschirm,
der fast ständig angeschaltet war. Die Stammgäste im Déjà-Vu, die Eddi, Willi
und Horst hießen, sahen mit halbem Auge zu, was im Fernsehen lief, seien es
Nachrichten oder Serien, während sie mehr oder weniger vereinzelt und stoisch
über ihren Bieren hockten. Nur wenn Fußball lief, dann kam Leben ins Déjà-Vu,
dann regten sie sich gemeinsam auf oder freuten sich, dann wurden sie sehr
lebendig, die Willis und Eddis. Dabei tranken sie viel, vor allem Biere und
Schnäpse.
Romy schenkte routiniert aus. Bei ihrer Arbeit in
der Kneipe brachte nichts sie aus der Ruhe.
Am Ende eines solchen Fußball-Abends saß lange
nach Mitternacht nur noch Günther am Tresen. Romy räumte bereits auf und tauschte
zwischendurch Günthers leeres Bierglas gegen ein volles aus. Plötzlich umfasste
er dabei ihr Handgelenk.
»Ich kannte mal eine Romy. Die war auch so schön
wie du.«
»Ach, Günther«, sagte Romy, »lass das.« Sie hatte
schon vor Jahren aufgehört, mit Gästen zu schlafen, um ihre private Kasse
aufzubessern.
»Nein«, lächelte Günther, »ist wahr! Die war
Animierdame im Rendezvous. Die war nicht von schlechten Eltern. Alle waren
total verknallt in sie. Musste man sich leisten können. Ich habe sie mir
geleistet, die Romy. Hatte aber einen anderen Namen. Hat sich so genannt, weil
sie Romy Schneider so toll fand. Sah tatsächlich ein bisschen so aus. Ich sage
dir, die war umwerfend. Alle waren
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