STYX - Fluss der Toten (German Edition)
wiederholte das Mädchen und nickte.
Vorsichtig nahm Navin den Riegel aus ihrer Hand und betrachtete ihn. Er verstand nicht, was er damit machen sollte. Den Kleinen füttern? Es sah nicht so aus, als wäre er ansprechbar oder als könne er etwas zu sich nehmen.
Doch das Mädchen schien zufrieden, dass er den Riegel an sich genommen hatte. Es wandte sich ab und hüpfte in einer sonderbaren Kleine-Mädchen-Art zu den anderen Kindern zurück, um mit ihnen bunte Sammelkarten zu tauschen.
Navin schob den Schokoladenriegel unter das Stroh seines Lagers. Er würde sich morgen Gedanken darüber machen, was er damit anfangen sollte. Vielleicht konnte er ja Cassie fragen.
Cassie ...
Als er die Augen schloss, konnte er noch immer ihren hageren Körper im rötlichen Schein der Glut vor sich sehen. Du hast zu lange keine Frau mehr gehabt, Navin , sagte er sich und drehte sich entschlossen mit dem Rücken zur Feuerstelle, um nicht mehr zu dem Bündel hinübersehen zu müssen, das das junge Mädchen war.
*
Der Traum überfiel ihn ganz plötzlich und ohne, dass sich Navin überhaupt bewusst gewesen war, eingeschlafen zu sein. Unvermittelt fand er sich in einer fremdartigen Umgebung wieder. Eine dunkle Höhle oder vielleicht auch ein unterirdischer Gang; er konnte nicht weit genug sehen, um das beurteilen zu können. Unter seinen Füßen spürte er glatten Steinboden, nass und ein wenig rutschig, doch Navin wusste – mit dieser seltsamen Gewissheit, die einen in Träumen bisweilen überkommt –, dass es nicht der Regen gewesen war, der diesen Boden benetzt hatte. Er war hier in einer Gegend, wohin der Regen nicht kam. Niemals. Wenn es einmal geschehen sollte, dass das Höhlendach einstürzte und Licht und Wetter diesen Boden erreichten, dann ... ja was dann? Navin hatte das Gefühl, es müsste das Ende der Welt bedeuten, doch er konnte sich nicht erklären, warum.
Es war kühl hier, aber nicht unangenehm. Es war eine frische Kühle, die Navin mit einem Frühjahrsmorgen am Fluss verband, zu einer Zeit, als der Fluss noch nicht ein einziges Schlammmonster geworden war, das den »Anderen« ihre Opfer vor die Füße warf. Dies hier war der Geruch nach einem gesunden Fluss.
Navin streckte vorsichtig seine Hand zur Seite aus und tastete nach der Wand, von der er wusste, dass sie sich neben ihm befinden musste. Glatter, kühler, feuchter Stein unter seinen Fingerspitzen, eine Oberfläche wie Glas, schwarz wie die Nacht. Es fühlte sich an wie zu Hause.
Nein, nicht ganz wie zu Hause. Navin musste den Fluss finden. Zeit seines Lebens war das Wasser sein zu Hause gewesen und daran würde sich jetzt sicher nichts ändern.
Zögerlich begann er, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Er war barfuß, denn er konnte den glatten Boden unter seinen Sohlen spüren und den Atem des Windes an seinen bloßen Knöcheln. Doch ansonsten ... Navin sah an sich herab und bemerkte, dass er in eine Art Robe gehüllt war, die jemand aus der schwarzweißen Militärdecke geschneidert hatte. Der Stoff fühlte sich schwer und rau auf seiner Haut an, doch auf eine seltsame Weise auch richtig, als habe er sich immer schon in eine solche Robe gekleidet. Und trotz des beständigen Windes und der feuchten Kälte, die vom Boden aufstieg, fror Navin nicht.
Er ging, ohne darauf zu achten, wohin er seine Schritte setzte. Er musste nicht nachdenken. Es war, als übernähme sein Körper die Führung ganz von alleine. Erst als er einige Minuten durch die beständige Schwärze gewandert war, bemerkte er das Rauschen. Eigentlich – so erkannte er – war es schon die ganze Zeit da gewesen; ein Rauschen und Plätschern und Tosen von wildem Wasser, das durch eine Enge schoss. Zuerst dachte er tatsächlich an einen Wasserfall, doch bald schon wurde ihm klar, dass es ein Fluss sein musste. Ein Fluss, dessen Gischt bis hinauf in die Höhle gestoben war und Wände und Boden benetzt hatte. Navin leckte sich die Lippen und spürte kleine klare Tröpfchen darauf, frisch und süß wie Bergquellwasser.
Er freute sich darauf, den Fluss zu sehen.
Die Dunkelheit lichtete sich ein wenig und Navin konnte einen steilen Abbruch erkennen. Die Uferkante eines unterirdischen, wilden Flusses. Doch er sah keine weiße Gischt über die Kante schäumen, keine dunklen Wellen, die über das Ufer schwappten und seine bloßen Füße benetzen würden, wenn er ihnen zu nahe kam.
Stattdessen sah er Cassie.
Das Mädchen stand direkt vor der Kante, seltsam einsam und verlassen in der
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