STYX - Fluss der Toten (German Edition)
wurde seltsam leer. »Es waren so viele Menschen. Und sie haben gar nicht alle an Bord gepasst. Bestimmt ein Dutzend Male bin ich gefahren und es gab niemanden außer mir, der den Kahn lenken konnte. Irgendwann sind wir aufgelaufen. Später hatte sich das Boot losgerissen und war gekentert. Da hatten wir schon so lange nichts mehr gegessen, dass ich mich einfach ins Wasser hab fallen lassen. Ich dachte, der Fluss würde mich umbringen, und das war auch ganz gut so, aber stattdessen hat er mich an diesen Damm gespült. Und da habe ich die Höhle gefunden.«
Cassie schwieg. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie wünschte sich, sie hätte es an Bord eines dieser Schiffe geschafft. Man sagte, flussaufwärts habe es ein Lager gegeben, von dem aus Schiffe ins All starteten, die die Menschen, die fliehen wollten, wegbrachten. Aber Cassie hatte es nie in dieses Lager geschafft und inzwischen gab es auch niemanden mehr, der diese Geschichten erzählte. Alles, was noch da war, war eine Handvoll Menschen, die versuchten, sich in der zerstörten Umwelt zurechtzufinden. Zu überleben. Vom All redete man nicht mehr. Es war genauso weit entfernt und unerreichbar wie jedes andere Paradies.
»Du wolltest sterben«, sagte sie schließlich, als Navin zu lange schwieg und sie das Gefühl hatte, selbst reden zu müssen, bevor das Schweigen unerträglich wurde.
Die Kinder futterten inzwischen ihre zweite Runde Schokoriegel. Die meisten sahen glücklich aus. Ein paar von ihnen setzten sich zusammen, um mit ihren lumpigen Puppen und abgewetzten Stofftieren zu spielen. So etwas wie Alltag kehrte in der Scheune ein.
»Zuerst nicht«, sagte Navin. »Ich lag auf dem Damm und dachte, jemand würde schon kommen und mich retten. Oder mir ein neues Schiff geben. Stattdessen kamen die ... die Anderen.«
Cassie presste die Lippen aufeinander. Die Anderen. Auch Navin hatte also kein Wort für die Wesen, die unvermittelt in ihren Alltag eingedrungen waren. Rona nannte sie »Monster«. Und das war das, was der Wahrheit am Nächsten kam. Auch wenn sie überhaupt nicht monströs aussahen, sondern wie Menschen, nur auch wieder anders.
Navin schüttelte den Kopf, als wolle er einen lästigen Gedanken verscheuchen. »Ich weiß nicht, warum sie mir nichts getan haben. Vielleicht haben sie geglaubt, ich wäre schon tot. Sie sind über den Damm gegangen, ganz dicht an mir vorbei. Und mit ihnen kam die Kälte und ... der Regen. Seither hat es hier nur geregnet. Ich bin in die Höhle gekrochen und hab mich dort vor dem Regen versteckt. Und vor Ihnen. Seitdem bin ich nicht mehr herausgekommen. Sie ... sie haben mir den Mut zum Überleben irgendwie genommen.«
Cassie nickte. Sie selbst war Ihnen nur einmal begegnet. Und dabei waren diese Wesen glücklicherweise weit von ihr entfernt gewesen. Aber sie hatte die Kälte gespürt. Die Kälte und den Winter, den sie brachten. Sie konnte sich nicht erklären, wie das möglich war, aber die Wesen schienen tatsächlich nicht nur Angst und Schrecken zu verbreiten, sondern auch das Wetter zu beeinflussen. Niemand hatte das verstanden. Und wer war Cassie schon, dass sie hinter dieses Geheimnis kommen konnte.
»Du musst dich ein bisschen ausruhen«, sagte sie zu Navin. Sie stand auf und sah sich in der Scheune um, bis sie eine alte Militärdecke fand, die noch niemand für sich beansprucht hatte. Die trug sie zu Navin hinüber und reichte sie ihm. »Und du solltest aus den nassen Sachen raus«, meinte sie und spürte gleich darauf, wie sie rot wurde. Rasch wandte sie das Gesicht ab und starrte die Wand an, als ob sie dort etwas außergewöhnlich Interessantes entdeckt hatte. Navin räusperte sich und als Cassie einen kurzen Blick auf ihn riskierte, merkte sie, dass er mindestens genauso verlegen geworden war wie sie selbst.
»Ich werde mich auch hinlegen«, sagte sie hastig und deutete auf ihre Lagerstätte auf der anderen Seite des Feuers. »Ich bin müde. Und morgen muss ich mich wieder auf die Suche nach etwas Essbarem machen. Es ist nicht einfach, all diese Mäuler zu stopfen.«
Sie merkte, dass sie plapperte und wurde noch roter. Bevor sie sich ganz in Teufels Küche bringen konnte, stand sie auf, ging um das Feuer herum und begann, demonstrativ ihre Kleidung abzulegen. Sie musste sich anstrengen, dabei nicht immerfort einen Blick auf Navin zu werfen. Es war lächerlich. Sie hatte sich schon dutzende Male vor den Kindern ausgezogen. Hier gab es keine Scheu, das war genauso unsinnig wie falscher
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