STYX - Fluss der Toten (German Edition)
»Ingo hat zurzeit beruflich sehr viel zu tun, und ich denke gar nicht daran, deshalb auf zwei Wochen Venedig zu verzichten«, erklärte sie. Ingo war ihr aktueller Freund. »Also, was ist? Kommst du an seiner Stelle mit?«
»Ich...«
»Ach, Natalie! Willst du nicht ein einziges Mal in deinem Leben etwas richtig Aufregendes tun?« Karin blickte sie prüfend an und meinte dann zufrieden: »Na, siehst du.«
Natalie hatte überhaupt nichts gesagt, aber offenbar verriet sie das Leuchten in ihren Augen.
»Dann ist es also abgemacht?«, freute sich Karin.
»Augenblick mal, was soll ich denn meinen Eltern sagen?«
»Dir wird schon was Passendes einfallen«, erwiderte ihre Freundin lachend.
Natalie zog die Stirn in Falten. Das sagte sich so leicht. Aber wie brachte man den eigenen Eltern bei, dass man plötzlich hinaus in die Welt wollte? Und dann ausgerechnet nach Venedig?
»Du kannst doch nicht ganz allein fliegen«, hatte ihr Vater gesagt. »Da kann dir sonst was passieren. Vielleicht wirst ausgeraubt oder von einem Auto überfahren.«
»Wenn überhaupt, dann von einer Gondel«, murmelte Natalie.
»Was?«
»Nichts, Papa. Mach dir keine Sorgen. Mir wird nichts passieren. Ich kann schon auf mich aufpassen. Außerdem ist ja Karin dabei.«
»Umso schlimmer«, sagte ihre Mutter.
»Hört auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln«, entgegnete Natalie gereizt. »Ich fliege mit Karin nach Venedig, und ich sehe nicht ein, was daran so schlimm sein soll. Schließlich bleibe ich ja nur zwei Wochen weg.«
Sie verließ das Wohnzimmer, rannte hinaus in die eisige Januarluft und atmete mehrmals tief ein. Mittlerweile freute sie sich auf das Abenteuer, auf das Unbekannte und auf den Karneval. Doch je näher die Abreise rückte, desto mehr verließ Natalie der Mut. Und als die beiden Frauen endlich im Flugzeug saßen, war sie nur noch ein Nervenbündel.
Doch das änderte sich, als sie landeten. Auf der Fahrt vom Flughafen »Marco Polo« in die Stadt schaute Natalie aus dem Fenster auf die Lagune. Der Anblick war atemberaubend. Ein Schiff der öffentlichen Bootslinien brachte sie zu einem kleinen, aber eleganten Hotel direkt am Canal Grande , nicht weit vom Fischmarkt. Natalie sah sich die vielen imposanten Palazzi an, die trotz ihrer teilweise bröckelnden Fassaden nichts von ihrer Pracht eingebüßt hatten. Hier und da zweigten kleine Kanäle ab. Sie wurden von Brücken überspannt und wirkten geheimnisvoll, beinahe Angst einflößend. Der Carnevale brodelte durch die Gassen und über die Brücken, zeigte sich in vorbeifahrenden Gondeln und Booten. Masken über Masken, wohin man auch sah. Die einen nicht besonders originell, die anderen offenbar direkt der Commedia dell' Arte entsprungen, der berühmten italienischen Berufskomödie. Da ging ein eleganter »Cassandro« Arm in Arm mit dem weiß gekleideten »Pulcinella« vorbei, dort scherzte ein »Arlecchino« in buntem Kostüm und schwarzer Maske mit der scheuen Dienerin »Colombrina«. Beim Carnevale di Venezia lebte der Prunk vergangener Jahrhunderte wieder auf. Angesichts der vielen neuen Eindrücke schwirrte Natalie der Kopf. Am liebsten hätte sie sich im Hotel ein wenig ausgeruht, aber davon wollte Karin nichts wissen.
»Los komm schon. Wir besorgen uns Kostüme und stürzen uns ins Vergnügen. Ausruhen kannst du dich, wenn wir wieder zu Hause sind.«
Eine halbe Stunde später hatten sich die beiden Frauen in der Theaterschneiderei Il Baule passende Kostüme ausgeliehen und mischten sich unter das fröhliche Volk. Karin stellte in ihrem Kleid aus weißem Satin eine Ballerina dar. Natalie hatte sich für das Kostüm der historischen »Cantatrice«, der Sängerin, entschieden. Über weißem Untergrund lagen reich verzierte Stoffbahnen, schimmerten rot und golden, und gaben ihrem Gesicht einen nie gekannten Glanz. Der Ausschnitt war so tief, dass sie sich in der feucht-kalten Luft bestimmt eine Erkältung holen würde. Allerdings reagierten auch viele Männer auf diesen reizvollen Anblick. Binnen kürzester Zeit war Natalie von Verehrern umzingelt, die ihr eindeutige Angebote machten. Einige wurden sogar aufdringlich und betatschten ihren Hintern. Karin war irgendwo in der Menge untergetaucht.
Natalie verließ den Markusplatz, fand sich in einem Wohnviertel wieder und stand auf einmal dem geheimnisvollen Mann gegenüber. Angst durchfuhr sie. Der Fremde machte zwei Schritte auf sie zu und überreichte ihr einen Briefumschlag.
Natalie zögerte einen Moment. »Was
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