STYX - Fluss der Toten (German Edition)
dunkel, der Nebel grau und die Nacht kalt waren. Für Jean und viele andere war jetzt alles noch finsterer und kälter. Er sackte zusammen und ließ sich in den Sand fallen.
Der Fährmann hatte ihn nicht mitgenommen. Er saß immer noch auf der Schwelle zur Welt der Lebenden fest und würde Olivia möglicherweise niemals wiedersehen. Jean grub seine Hände in den Sand und warf ihn wütend ins Meer. Dann noch eine Hand und noch eine Hand. Das Wasser schluckte seine Wut bereitwillig.
Schreiend sprang Jean auf, trat den Sand in Richtung Himmel und fluchte, bis er glaubte, keine Stimme mehr zu haben. Dabei wurde er von vielen anderen beobachtet, die ebenfalls nicht mitgenommen wurden. »Typisches Verhalten für einen Neuen«, meinte einer abfällig.
Jean schloss die Augen und atmete mehrmals durch. Sie würden wiederkommen. Sie kamen immer wieder und ein anderer würde ihn mitnehmen. Wenn nicht dieser, dann der Nächste. Einer würde ihm die Geschichte glauben und ihn dann endlich mitnehmen.
Was aber, wenn nicht? Wenn alle so stur waren wie dieser? Dann wäre er an diesem Strand für den Rest der Ewigkeit gefangen. Seine Kinder würden in das Totenreich überwechseln, ihre Kinder und deren Kinder. Alle würden ihn zurücklassen. Nein, das durfte nicht passieren! Er hatte eine Münze und die musste er bekommen.
Eigentlich würde sich das ja von selbst lösen. Früher oder später fand die Münze ihren Weg aus seinem Körper, wenn auch nicht gerade unter angenehmen Bedingungen. Ob der Fährmann die Münze dann noch wollte?
Anscheinend musste Jean nur warten und der Natur ihren Lauf lassen. Allerdings war er tot und befand sich in einer Zwischenwelt, wo die normalen Gesetze der Natur nicht mehr galten. Es war möglich, dass die Münze ewig in seinem Körper gefangen war – wie er in dem Totenreich.
Jean konnte nicht mehr weinen. Er fühlte auch nichts mehr. Also hatten seine Organe sicher auch ihre Funktion, ihren Dienst aufgegeben. Mit zittriger Hand rieb er sich den Magen und tastete ihn behutsam ab. Wenn die Münze ihren Weg nicht nach unten hinausfand, dann würde er sie oben herausbekommen.
Jean schob sich einen Finger in den Rachen – nichts. Ein weiterer Finger folgte – immer noch nichts. Selbst den Würgereflex besaß er nicht mehr.
Jean brauchte ein Messer. Wenn es sein musste, würde er sich die Münze aus dem Bauch schneiden. Schmerzen konnte er ja auch nicht mehr fühlen, also wovor sollte er Angst haben?
Nur, woher sollte er ein Messer bekommen? Sicher hatte niemand so etwas dabei. Wozu brauchte ein Verstorbener »im Leben danach« auch ein Messer? Aber ein spitzer Stein wäre auch eine gute Möglichkeit. Jean suchte den Boden ab. Er sah grauen, grobkörnigen Sand, fand aber keinen einzigen Stein.
Mit gesenktem Kopf auf den Knien saß er eine Weile am Strand herum. In seinem Kopf hallte das Rauschen des Meeres. Olivia wartete schon so lange auf der anderen Seite auf ihn, er konnte sie nicht länger warten lassen. Auch wenn Jean der Gedanke widerstrebte, sah er keine andere Möglichkeit: Er musste jemandem die Münze stehlen.
5
»... es ist gar nicht so einfach, in den innenstädtischen Dienst zu kommen. Es ist weniger eine Frage von deinen Stärken und Fähigkeiten, sondern von »Vitamin B«. Heutzutage ist »Vitamin B« alles. Gilt sicher auch im Leben danach. Wie bist du an deinen Job gekommen? Auch durch Beziehungen?«
Eduardo nickte, obwohl er aufgehört hatte, seinem ersten Passagier zuzuhören. Seit der in das Boot eingestiegen war, redete er und redete. Um sich abzulenken, holte Eduardo seine erste selbstverdiente Münze hervor. Voller Stolz betrachtete er sie lächelnd, bis er stutzte: etwas stimmte nicht. Sofort hörte er auf, das Boot zu lenken und hielt die Münze ein Stückchen höher, um sie besser im Mondlicht betrachten zu können.
»Ist etwas?«, fragte der Verstorbene.
Eduardo ging rasch zum Bug und hielt sie ins Licht der Laterne. Sofort erkannte er die Wahrheit: Auf den ersten Blick sah die Münze ganz normal aus, doch bei genauerem Hinsehen sah man die feinen Unterschiede. Der Kopf des Demetrius war viel zu groß. Er ähnelte ihm zwar, wirkte aber irgendwie amateurhaft, wie selbstgemacht. Die Ränder der Münze waren zu glatt und das Material fühlte sich auch anders an. Eine Fälschung!
»Das ist kein Obolus !«, schrie Eduardo. Wut packte ihn und sein ganzer Körper begann zu zittern. Er war auf einen Betrüger mit einer billigen Fälschung hereingefallen. So etwas
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