STYX - Fluss der Toten (German Edition)
herrschte mehr Leben, als er für möglich gehalten hätte.
Es fiel Jean schwer, sich von diesen eigenartigen Anblicken loszureißen.
Er schwamm aber weiter und ließ die Fischschwärme und Wracks hinter sich. Bald herrschte nur noch undurchdringliche Finsternis. Weder den schlammigen Grund, noch das schwache Licht des Mondes an der Oberfläche konnte Jean nun sehen. Er drehte sich um. Jedenfalls glaubte er, es zu tun. Wo war er? War er überhaupt weitergeschwommen?
Jean sah hinauf und wollte nach oben schwimmen, doch er hatte das Gefühl weiter hinab in die Tiefe zu tauchen. Panik stieg in ihm hoch. Hektisch fuhr er herum, strampelte mit aller Kraft und schien sich dennoch immer mehr dem Grund zu nähern. Dann sah er einen verschwommenen dunklen Schatten, der sich ihm näherte. Dieser schwebte auf ihn zu und Jean erkannte, dass es sich um eine Frau handelte. Sie trug ein dünnes, weißes Kleid. Ihr langes, blondes Haar schwebte nach oben. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und bewegte sich leicht hin und her, als würde sie zu einer stummen Melodie schunkeln.
Jean schwamm auf sie zu. Sie war wie er: eine verirrte Seele. Gemeinsam würden sie einen Weg aus der Dunkelheit finden.
Er wollte sie an die Schulter packen und umdrehen, da fuhr sie plötzlich herum und Jean stieß ein stummes Grunzen aus. Eine aufgedunsene Grimasse blickte ihm entgegen, von Fischen halb weggefressen. Sie besaß keine Lippen und grinste Jean mit blanken Zähnen an. Ihre Augen waren leere Höhlen. Überall klafften große, schwarze Wunden auf der Haut und das rohe Fleisch schwebte in großen, fransigen Fetzen um das Gerippe herum.
Sie streckte ihre Hände mit knöchernen Fingern nach ihm aus. Jean versuchte erneut zu schreien, was ihm unter Wasser nicht gelang, schluckte Unmengen Wasser und strampelte nach hinten, doch er kam nicht weg. Die Frau näherte sich immer mehr. Sie öffnete den Mund und sagte etwas, was Jean jedoch nicht verstand. Ihr Gesicht nahm flehende, fast schon bettelnde Züge an und sie wiederholte den Satz wieder und wieder. Jean glaubte zu wissen, was sie sagte: Bitte, nimm mich mit! Bitte, nimm mich mit!
Er strampelte verzweifelt weiter, als ihn plötzlich etwas berührte: ein weiterer halb abgenagter Verstorbener. Dessen gesamte linke Gesichtshälfte fehlte und auch er flehte: Bitte nimm mich mit!
Weitere Verdammte schwebten aus der Dunkelheit. Sie alle streckten die Arme aus und bettelten um Hilfe. Nein, so wollte Jean nicht enden! Nicht als Futter für die Fische. Hätte er doch nur auf die Warnungen gehört und wäre am Strand geblieben!
Mit aller Kraft kämpfte er sich frei und sah sich hektisch um. Er war eingekreist. Sie waren überall, krochen aus jedem Winkel der Dunkelheit. Jean sah nach oben und erkannte einen kleinen gelben Punkt – nicht größer als der erste Stern am Dämmerungshimmel –, der sich langsam bewegte. Jean wusste nicht, was dieser schwache Lichtschein war, aber das war ihm egal. Die Angst trieb ihn nach oben.
Er ruderte mit den Armen so schnell er konnte. Die Verdammten folgten ihm, schnappten nach seinen Beinen. Bitte nimm uns mit!
Das Wasser wurde heller und klarer. Jean erkannte in dem Stern einen dunklen Schatten an der Wasseroberfläche. Mehrmals verfehlten die abgenagten Klauenhände seine Beine nur knapp. Ständig streiften ihre Finger den Stoff seiner Hose.
BITTE NIMM UNS MIT!
Die Strömung wurde kräftiger und Jean konnte die Linien der Wellen an der Wasseroberfläche erkennen. Nur noch ein Stückchen. Nur noch wenige Meter.
Die Verstorbenen entfernten sich immer mehr von ihm. Vielleicht hatten sie einfach nicht die Kraft, so lange zu schwimmen oder sich an der Oberfläche zu halten. Stumm stiegen sie wieder in die Dunkelheit hinab und Jean tauchte endlich auf.
8
»... ich wusste nicht, dass es sich um eine Fälschung gehandelt hat. Da hat man uns beide betrogen. Kannst du nicht vielleicht ...«
Als plötzlich etwas aus dem Wasser hervorschnellte, schrien Eduardo und der Passagier gleichzeitig. Prustend und schnaubend packte das Ding nach dem Boot und hielt sich daran fest. Das Boot schaukelte so stark, dass es beinahe gekentert wäre.
»O Gott! Was ist das? Was ist das?«
»Ein Verdammter aus dem Fluss des Todes«, flüsterte Eduardo. Er konnte es nicht glauben. All die Geschichten und Legenden waren wahr. Verstorbene aus dem Wasser, die an die Oberfläche kamen und den Fährmann angriffen: Sie existierten wirklich. Erst ein Passagier mit falschem Obolus und jetzt
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