STYX - Fluss der Toten (German Edition)
los. Sie liefen kreuz und quer über den Strand, durch Menschenmengen hindurch, in Richtung Wasser und wieder zurück. Der Mann schlug Haken wie ein Hase. Die Fähren kamen näher. Jean setzte zum Sprung an und bekam den Mann zu packen. Er riss ihn zu Boden und sie rollten zusammen über den Sand.
»Gibt mir meine Münze!«
»Was?«
»MEINE MÜNZE!«
Jean kam auf dem Fremden zu sitzen. Er hob drohend die Faust und knurrte: »Gib sie mir!«
Der Mann hielt schützend die Hände vors Gesicht. »Ich habe sie nicht.«
»Was?«
»Ich habe deine Münze nicht.«
Jean glaubte ihm kein Wort, drückte das Gesicht des Mannes in den Sand und suchte seine Münze in dessen Taschen, fand sie jedoch nicht. Hatte er sie möglicherweise versteckt, irgendwo vergraben?
»Du hast doch gesehen, dass ich die Frau untersucht habe. Wenn ich deine ...« Der Mann erhob sich ein wenig und spuckte Sand aus. Sein Gesicht war voll davon. »... oder irgendeine andere Münze hätte, würde ich wohl kaum weitersuchen.«
Jean ballte die Faust und wollte zuschlagen, hielt aber inne. Was der Fremde sagte, machte Sinn. Nur, wenn er seine Münze nicht hatte, wo war sie dann? Hatte sie ihm jemand anderes gestohlen?
Jean ließ von dem Strolch ab und trottete davon. Konnte es sein, dass ihm seine Kinder keinen Obolus gegeben hatten? Wohl kaum, das hätten sie niemals getan.
Er ging zum Ufer und setzte sich hin. Die Boote waren nicht mehr weit entfernt. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Hatte er nicht etwas verschluckt, nachdem er aufgewacht war? Mit den Fingern glitt er seinen Hals entlang, hinunter zum Magen. Jean glaubte, die Münze fühlen zu können. Sie schien sich bei jeder Bewegung hin und her zu bewegen, er konnte noch ihren metallenen Geschmack in seinem Rachen spüren. Verdammt, er hatte die Münze verschluckt, der Obolus schlummerte in seinem Körper. Zum einen musste Jean lachen, zum anderen packte ihn die Angst. Niemand hatte die Münze gestohlen und verlorengegangen war sie auch nicht. Die ganze Zeit über hatte er sie bei sich gehabt: Sicher vor den anderen, gleichzeitig unerreichbar für ihn.
Doch er wusste, dass er für die Überfahrt zahlen musste. Nur wie?
Er würde es dem Fährmann einfach erzählen – die Geschichte vom armen Jean, der so lange von der Liebe seines Lebens getrennt war, wie sehr er sich nach einem Wiedersehen sehnte und das er ja eigentlich zahlen konnte.
Theoretisch.
Der Fährmann würde ihn sicher verstehen und ihm glauben. Er musste es einfach tun. Für den armen Jean und seine Olivia würde er bestimmt eine Ausnahme machen ...
3
»... und nicht vergessen, niemals eine Ausnahme machen!«
»Nicht ein einziges Mal!«
»Niemals!«
Die restlichen Meter bis zum Strand hatte Maurice den jungen Eduardo noch mit guten Ratschlägen versorgt. Er durfte auch schon selbst das Boot lenken, was gar nicht einfach war. Mehrere Stunden hatte Eduardo geübt, dennoch war es etwas anderes, selber das Ruder in die Hand zu nehmen. Irgendwie fiel ihm jetzt alles schwerer: das Lenken, das Steuern, selbst die Fahrt geradeaus war zu einer Herausforderung geworden. Mal neigte sich das Boot zu sehr nach links, dann wiederum brach es rechts aus.
Bei Maurice hatte es so einfach ausgesehen. Am liebsten wäre Eduardo umgekehrt, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Die schwarzen Boote aus glänzendem Holz stoppten und die Verstorbenen strömten darauf zu. Die Laternen erhellten den Nebel, der wie eine pulsierende Wand aus dunkelgelbem Licht erschien.
»So ... ich gehe jetzt«, sagte Maurice und erhob sich stöhnend.
»Jetzt schon? Kommst du nicht mit zurück?«
»Ich habe dir genug beigebracht, Kleiner. Und jetzt stoße ich dich ins kalte Wasser.« Er lachte, leckte sich die Zähne und deutete in den Fluss. »Aber keine Angst, nicht in dieses. Was ist schlimmer als die Verstorbenen am Strand?«
»Die Verstorbenen, die im Wasser sind«, sagte Eduardo und ein Schauder lief ihm über den Rücken.
Es waren natürlich alles nur unheimliche Geschichten, um den zukünftigen, jungen Fährmännern Angst zu machen: Tote, die nicht mitgenommen wurden und versuchten, alleine das andere Ufer zu erreichen. Sie kamen aber niemals an, sondern verirrten sich im Wasser und schwammen ziellos umher. Wenn man ruhig war, konnte man ihr leises, flehendes Stöhnen hören. Manchmal, so hieß es, schwammen sie sogar an die Oberfläche und man konnte ihre Silhouetten im Nebel erkennen. Dann winkten sie den Fährmännern zu. Angeblich soll das
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