STYX - Fluss der Toten (German Edition)
ich sie in der Hand hielt, bemerkte ich allzu deutlich, dass ich nichts erkennen konnte. Ach ja, die Brille. Schön, dass ich auch darauf vorbereitet war. Dabei hatte ich mich schon ohne Brille auf den Weg machen wollen, in völliger Verkennung des Unterschieds zwischen Privatperson und meiner Rolle als Schauspieler.
Ich langte nach meiner Lesebrille, entnahm sie dem silbernen Metallgehäuse, und überflog das Papier, angefüllt mit Daten, Tabellen und Namen. Im Eiltempo blätterte ich hin und her, bis ich schließlich die richtige Stelle fand – gleich auf der ersten Seite.
Da stand es, ziemlich in der Mitte, direkt links unter dem eingegrenzten Kasten mit der unterstrichenen Überschrift »Tagesdisposition«. Name der Serienfolge, Datum und genaue Bezeichnung des Drehtags folgten.
Der Begriff »Drehort« fiel nicht direkt ins Auge, weil alles, was sich im Kasten befand, mit großen, dick gedruckten Buchstaben die Aufmerksamkeit auf sich zog. Und dann waren da noch andere, linierte Kästen. Alles etwas verwirrend für jemand wie mich, der nicht täglich damit zu tun hatte, in der Regel nur ein-, zweimal im Jahr. Umso mehr jubelte ich innerlich über meinen Fund.
»Sievekingplatz 1«, las ich laut vor.
»Hab ich mir schon gedacht«, murmelte er, ohne eine Miene zu verziehen.
Er startete den Motor. Langsam und routiniert bugsierte er seinen Wagen rückwärts aus der Einfahrt. Beruhigt überließ ich mich der Kompetenz meines Fahrers.
Bevor ich weitere Überlegungen zu seiner Person anstellen konnte, kam er mir zuvor: »Sie sind, äh ... Richter?«
Ich nickte, in Gedanken schon am Drehort.
»Als Richter hat man es sicher auch nicht leicht, heutzutage.«
Ich stutzte.
»Darf man fragen, um was für einen Fall es geht?«
Plötzlich begriff ich. Er hielt mich tatsächlich für einen Richter. Dabei trug ich noch nicht einmal mein Kostüm. Hatte der Anrufer vom Produktionsstab ihm denn gar nichts erklärt?
»Nein, ich spiele nur den Richter. Ich bin Schauspieler.«
Nun war seine Neugier erst recht geweckt. Ich gab bereitwillig Auskunft, auch über meine sonstigen Aktivitäten.
»Dann sind Sie ja ein ...«
»... Multi-Talent«, schnitt ich ihm das Wort ab, um sogleich einzuschränken: »Die Gefahr besteht darin, dass man von Vielem etwas versteht, aber nichts richtig.« Der Satz gehörte zu meinem Standardrepertoire, ohne dass er von seiner Gültigkeit je etwas verlor.
Munter miteinander plaudernd erreichten wir den Sievekingplatz. Es regnete noch immer in Strömen. Das Aussteigen würde keinen Spaß machen. Er drängte mich nicht. Und mir blieb noch genügend Zeit. Wir sprachen über die Finanzkrise, die gestiegenen Ölpreise, und wie ihn das in den Ruin zu treiben drohte.
In den 70iger Jahren war mein Vater als Kaufmann Opfer der Ölkrise geworden. Die Banken hatten ihm den Kredithahn zugedreht. Sein schwaches Herz hatte den Schock nicht überlebt. Ich war also in gewisser Weise das Opfer eines Opfers und konnte gut mitreden – selbst wenn ich schwieg.
Ich wunderte mich, dass sich niemand vom Fernsehteam vor dem Gebäude blicken ließ. Wenige Menschen, keine Fahrzeuge. Langsam ließ der heftige Regen nach.
Ich bat meinen Chauffeur um eine Quittung, zahlte den gewünschten Betrag und spannte meinen Regenschirm so auf, dass weder der Innenraum seines Wagens, noch ich dabei nass wurden. Unter den künstlichen Sternenhimmel meines aufgespannten Schirms geduckt, eilte ich die gebogene Auffahrt hinauf und stieg die Stufen zum Gerichtsgebäude hoch.
Das Taxi rollte hinter mir über den feuchten Asphalt davon. Es war ein Tag, wie es viele in der Stadt gab: Grau in Grau. Selbst der Regen war nichts Besonderes, fügte sich ins Bild.
In der Eingangshalle des Ehrfurcht gebietenden Baus, mit seinen massiven Säulen, langen Gängen und hohen Decken, war kaum jemand zu sehen. Auch hier von einem Fernsehteam weit und breit keine Spur. Links vom Hauptgang befand sich ein Glaskasten mit einer älteren, leicht übergewichtigen Dame dahinter.
Wohl die Auskunft , dachte ich. Aber sie hätte auch die Putzfrau sein können, die sich zufällig im Informationsbüro aufhielt.
Ich lehnte mich auf den steinernen Tresen, mit meiner Dispo in der Hand: »Guten Tag! Ich hätte gern gewusst, wo sich hier im Gebäude die Filmcrew aufhält.«
Reglos sah sie mich an.
Es lag nicht einmal ein Staunen über ihren Gesichtszügen. »Von einer Filmcrew weiß ich nichts.«
Na, das konnte ja heiter werden.
»Wir sind doch hier am
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