STYX - Fluss der Toten (German Edition)
sprang Helena auf. Sie küsste ihre Mutter auf den Scheitel und rannte schnell den Pfad zum Ufer hinunter.
*
Kassandra fror. Trotz sommerlicher Temperaturen hatte sie das Gefühl, man hätte ihr einen Eiswürfel auf den Scheitel gelegt. Unentwegt starrte sie auf den Wachsfleck und dachte darüber nach, was ihre Tochter zu sagen versuchte.
Sie würde Egeas davon erzählen, obwohl sie sich vor seiner Reaktion fürchtete. Es waren bereits sechs Monate seit Helenas Tod vergangen. Sechs Monate, in denen sie nahezu täglich an das Grab ihrer Tochter kam, um herauszufinden, weshalb sie noch immer nicht in den Hades gegangen war. Egeas beschimpfte sie seither oft, warf ihr vor verrückt zu sein, zu halluzinieren. Doch dieser Wachsfleck war der eindeutige Beweis, dass sie nicht verrückt war.
Kassandra stützte sich auf die Knie und stand schwungvoll auf. Kieselsteine polterten auf den Weg. »Ich bin bald wieder da«, flüsterte sie und eilte vom Friedhof.
Helena kauerte mittlerweile hinter einem Felsen. Langsam wurde es ruhiger am Ufer. Schüchtern linste sie aus ihrem Versteck. Das Schiff war randvoll mit Seelen, aber Charon legte nicht ab. Wild flatterten seine Haare im Wind. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die Umgebung. Es schien, als würde er etwas suchen.
Sein Blick blieb auf Helena ruhen, die erschrocken den Kopf zurückzog. Ein unbeschreibliches Gefühl der Panik und gleichzeitiger Erleichterung übermannte sie. Sie hörte ihn über den Steg laufen; langsam, aber bestimmt. Als sie einen erneuten Blick riskierte, hatte Charon das Ufer bereits erreicht. Nie zuvor war er so weit von seinem Schiff gegangen. Er riss beide Arme in die Höhe und eine Welle des Styx schwabbte über den hölzernen Steg, versperrte den Weg zum Schiff.
Die verlorenen Seelen drängten beiseite, hielten sich eng umklammert und starrten dem Fährmann mit angsterfüllter Miene entgegen. Charon legte seinen Kopf schief, die dunklen Augen fest auf Helena gerichtet. Sie musste schlucken, als er näher stapfte und duckte sich mit angezogenen Knien zurück hinter den Felsen. Dabei vergrub sie das Gesicht in ihren Händen.
Plötzlich packte sie etwas an ihren blonden Locken und tausende Nadelstiche prasselten durch ihren Kopf. Schreiend wurde sie aus ihrem Versteck gezerrt und landete plump im trockenen Gras. Tränen begannen, ihre Wangen hinab zu stürzen. Sie wusste, dies war ihr Ende.
Als weiter nichts geschah, stützte sich Helena zögernd auf ihre Arme und richtete den Oberkörper auf. Ihre Augen fuhren kräftige Beine, einen Lendenschurz und einen nackten Oberkörper entlang. Drohend und riesig stand Charon vor dem kleinen Mädchen. Sein Blick hielt sie gefangen.
»Ein Gesetz besagt«, donnerte seine Reibeisenstimme, »dass es verlorenen Seelen nicht gestattet ist, den Weg zurück zum Friedhof zu gehen. Wagen sie es doch, so führt der Weg in die ewige Verdammnis!«
Helena zuckte zusammen. Nun würde es gleich vorbei sein.
Charon packte sie erneut und zog sie auf die Füße.
»Hast du etwas zu sagen?«, fauchte er sie an.
Das Mädchen faltete die zarten Hände. Sie stand am Ufer des Styx und der Wind streichelte sie mit einer warmen Brise. Wenigstens er hatte Gnade mit ihr. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Körper aus, sie schloss die Lider und hob ihren Kopf.
Leise begann Helena das Gute-Nacht-Lied zu singen, welches ihre Mutter jeden Abend für sie gesungen hatte. Ihre glockenhelle Stimme tönte über das Wasser. Die tosenden Wellen beruhigten sich und schienen im Klang der Melodie zu schwingen. Charons Hand an Helenas Oberarm lockerte sich und ein Raunen ging durch die Seelen.
»Orpheus«, flüsterte er. Helena unterbrach ihren Gesang nicht. Es fühlte sich gut an, dieses Lied zu singen. Sie fühlte sich ihrer Mutter nah.
Als sie fertig war, drehte sie sich zu Charon um. Ihre blauen Augen glitzerten ihn fröhlich an. Verschwunden waren Angst und Sorge.
Charons Gesichtszüge waren weicher geworden. »Orpheus hat einst ein Lied gesungen. Ihm gewährte ich die Überfahrt in den Hades. Dir, mein Kind, werde ich die Verdammnis ersparen. Aber sei gewarnt! Ein Fehltritt und ich vergesse meine Gnade«, erklärte er. Dann kehrte der Fährmann auf das Schiff zurück und legte ab.
Helena blieb wie versteinert stehen und sah ihm nach.
»Ich werde gehorchen«, wisperte sie.
*
»Hier, komm – schau dir das an! Das war deine Tochter«, keuchte Kassandra. Sie war zum Grab gerannt, dicht gefolgt von Egeas. Völlig außer Atem
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