STYX - Fluss der Toten (German Edition)
kam er kurz nach ihr an. Keuchend stützte er sich auf seinen Knien ab.
»Mit etwas Fantasie könnte das eine Münze sein, ja«, stöhnte er und verdrehte die Augen.
»Wir müssen die Exhumierung veranlassen«, bettelte Kassandra. Zweifelnd blickte Egeas zwischen seiner Frau und dem Wachsfleck umher.
»Bist du völlig verrückt geworden?«, zischte er und richtete sich auf. Sein Schatten verschluckte die zierliche Kassandra vollständig.
»Aber sie braucht eine Münze«, flehte Kassandra.
»Sie hatte eine. Das kann nicht der Grund sein. Wer sagt mir denn, dass du dieses Zeichen nicht selbst gemacht hast?«, knurrte Egeas unwillig.
Kassandra war schockiert von seiner Anschuldigung. »Glaubst du ernsthaft, ich würde meine Tochter lieber tot zu Hause haben als gar nicht?« Sie funkelte ihn wütend an.
Egeas überlegte kurz, dann nickte er. »Du bist nie darüber hinweggekommen. Die Welt hat sich weitergedreht, aber ohne dich.«
Kassandra schüttelte den Kopf und begann zu weinen. »Vielleicht hat sie die Münze beim Transport zum Grab verloren. Ich will doch nur, dass sie ihren versprochenen Weg gehen kann. Im Hades wird man erkennen, was für ein tolles Mädchen sie war. Sie wird einen Platz in einer wunderschönen Welt bekommen. Das haben wir ihr doch immer erzählt! Und nun soll es am Obolus scheitern?«, kreischte sie außer sich vor Zorn.
Wie konnte sie nur glauben, dass ihr Mann sie verstehen, ihr helfen würde? Noch nie hatte er sich großartig für Helena interessiert. Sie war ein Unfall gewesen, ungeplant. Kassandra hatte Egeas bekniet, das Kind gebären zu dürfen. Von Anfang an war das Verhältnis zwischen Egeas und seiner Tochter schwierig. Er beachtete sie kaum. Seine Arbeit als Gastronom schien ihm wichtiger als die Familie. Zu oft hing er mit hübschen jungen Damen und gutaussehenden Männern herum, alles »Freunde« die Kassandra nicht kannte.
Erst als Helena erkrankte und die Diagnose Leukämie lautete, begann er sich um seine Familie zu kümmern. Von einem Tag auf den nächsten wurde aus ihm ein Vorzeige-Vater und Kassandra wusste nicht, ob sie sich freuen oder traurig sein sollte. Freuen, weil ihre Tochter endlich den Vater bekam, den sie ihr immer gewünscht hatte. Oder traurig sein, ob der schrecklichen Erkrankung.
Seit Helena gestorben war, lebte Egeas wieder nur für sein Restaurant. Er trainierte hart und hatte sein Sixpack zurück. Seine Kleidung war stets eng und schmeichelte seinem Adonis-Körper. Es war zu offensichtlich, dass er seine Tochter nach deren Tod vergessen wollte.
»Wir werden unsere Tochter nicht wieder ausgraben! Lass es endlich gut sein und such dir einen Therapeuten«, brüllte Egeas. Tiefe Zornesfalten bildeten sich auf seiner Stirn. Knirschend machte er auf dem Absatz kehrt und steuerte Richtung Parkplatz.
Kassandra weinte bitterlich. Sie zog ihren Geldbeutel aus der Handtasche und strich über das darin befindliche Bild ihrer Tochter: ein glückliches, ein hübsches Mädchen. Sie angelte zwei Münzen aus dem Kleingeldfach und steckte sich diese in den Mund.
Egeas hielt an und drehte sich um. Seine Frau stand noch immer am Grab.
»Verdammt!« Schnaubend kickte er einen Stein durch die Gegend und lief zurück.
Kassandra war auf die Knie gesunken und hielt die Grabkerze in beiden Händen. Der bittere Geschmack der Münzen breitete sich in ihrem Mund aus. Als sie Egeas zurückkommen sah, schlug sie die Kerze fest auf die Grabumrandung. Das Glas zerbrach in hunderte kleiner und großer Splitter.
Egeas blieb verdutzt stehen. »Was tust du da?«
Kassandra blickte auf, eine Scherbe in ihrer Hand. Sie öffnete den Mund und zeigte auf die Münzen unter ihrer Zunge. Dann fuhr die Scherbe blitzschnell über ihre Unterarme.
Egeas erstarrte vor Entsetzen. Kassandra heulte auf, presste aber, aus Angst die Münzen zu verlieren, ihre Lippen zusammen. Sie kroch ein paar Meter weiter, um möglichst weit weg von Egeas zu kommen. Blut spritzte aus ihren Armen, färbte die weißen Kieselsteine in dunkles Rot. Mit schwarzen Schleiern vor den Augen sank sie erschöpft auf die Steine. Sie spürte nichts mehr, hörte nichts mehr. Alles, woran sie in diesem letzten Augenblick denken konnte, war ihre Tochter, mit der sie bald wieder vereint sein würde.
*
Helena saß wie versprochen am Ufer und blickte gen Horizont. Neue Seelen tummelten sich am Pfad des Friedhofes und warteten auf Charons Ankunft. Dem Mädchen war es egal. Sie hatte gelernt, sich aus den Tumulten herauszuhalten,
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