STYX - Fluss der Toten (German Edition)
die Neuankömmlinge nicht zu beachten, um somit Neid und Zorn zu vermeiden.
Wieder verdunkelte sich der Himmel. Helena seufzte laut. Das Schiff glitt auf hohen Wogen vorüber und sie hätte schwören können, dass Charon sachte die Hand zum Gruße erhoben hatte.
Wieder kam es zu Rangeleien, als er anlegte. Doch Helena blieb wie versteinert am Ufer sitzen.
»Ist hier noch Platz?«, trällerte eine liebliche Stimme hinter ihr.
Helena traute ihren Ohren nicht. Blitzschnell wirbelte sie herum und sah in das Gesicht ihrer Mutter. Fassungslos starrte sie Kassandra an, bevor sie ihr lachend und schreiend in die Arme fiel.
»Mama, wieso ...?«
Kassandra legte ihr einen Finger auf die Lippen.
Anschließend öffnete sie ihre Hand und eine saubere, funkelnde Münze blitzte Helena entgegen. Mit glitzernden Augen nahm sie die Münze und steckte sie in den Mund.
Hand in Hand gingen die beiden an Bord des Schiffes.
Mein Bruder ist kein böser Mensch
Katharina Erfling
Mein Bruder ist kein böser Mensch.
Nein, eigentlich ist er der fürsorglichste Mensch, den ich kenne. Er war immer für mich da und stand immer an meiner Seite. Deshalb war das hier das Mindeste, was ich für ihn tun konnte.
Immer tiefer führte mich mein Weg in den dunklen Wald. Meine Orientierung hatte ich bereits vor langer Zeit verloren, verließ mich einzig und allein auf mein Gespür. Ich spürte, dass ich auf dem richtigen Weg war. Ich war mir darüber genauso bewusst wie über die Tatsache, dass mein Name Jenna war.
Nur spärlich fiel Licht durch die dichten Tannenzweige auf den Weg. Fröstelnd zog ich die Jacke noch enger um mich. Es war ein milder Oktobertag, doch war ich derart überstürzt aufgebrochen, dass ich nicht daran gedacht hatte, mir eine dicke Jacke anzuziehen.
Der düstere Wald machte mir Angst. Überall schienen Gefahren zu lauern. Hinter jedem Baum und unter jedem Stein sah ich Raubtiere, die mich angreifen, oder Menschen, die mich entführen wollten. Und dann könnte ich meinem Bruder nicht mehr helfen, dann hätte ich alles vermasselt.
Seit ich den Wald betreten hatte, ließ mich das Gefühl verfolgt zu werden einfach nicht los. Leise, kaum vernehmbar, hallte eine Stimme durch die Dunkelheit. Rief da jemand nach mir? Die Stimme war zu weit entfernt, ich konnte sie nicht verstehen. War es mein Bruder?
Natürlich!
Halte durch, ich komme!
*
»Bleib stehen!«
Die Tränen liefen meine Wangen hinab, während ich durch das morgenfeuchte Gras stapfte. Immer wieder blitzte das helle Fell auf und kurz schien ich jedes Mal den Kopf des Schafes zu sehen, das nach mir sah, ehe es wieder im Unterholz verschwand. Ich hätte schwören können, dass das kleine freche Tier mich auslachte!
Mein ganzer Körper schmerzte. Die Verfolgungsjagd hatte mich quer über die unebene Wiese geführt, die Hügel hoch und wieder herunter, und durch zahlreiche Dornengestrüppe. Meine Arme waren bereits über und über mit roten Kratzern übersät und auch die Fußgelenke taten mir weh. Immer wieder war ich in Kaninchenlöchern und an Wurzeln hängengeblieben.
Ich durfte dieses Schaf nicht verlieren! Vater hatte es als Geschenk für den Bürgermeister von Hobbedink auserwählt. Wenn er erfahren würde, dass mir dieses preisgekrönte Tier entwischt war, setzte es bestimmt Schläge.
Plötzlich spürte ich, wie ich den Halt verlor und ein Ruck durch meinen Körper ging. Ich versuchte das Gleichgewicht wiederzufinden, doch es gelang mir nicht. Schnell zog ich die Arme schützend vor mein Gesicht, da fiel ich auch schon unsanft ins feuchte Gras. Rasend schnell wechselten sich der graublaue Himmel und das satte Grün des Grases ab, während ich den Berg hinabrollte. Von den unfreiwilligen Purzelbäumen wurde mir ganz schlecht und ich betete, diese Höllenfahrt möge bald ein Ende finden. Ich seufzte, als ich endlich zum Stillstand kam. Langsam und etwas benommen rappelte ich mich auf.
Verdammt, wo war das Schaf? Schnell kamen meine Lebensgeister zurück und mein erster Gedanke war: Vater wird mich umbringen!
Als ich mich umdrehte, sah ich als erstes Beine, die in einer zerschlissenen olivgrünen Hose steckten. Langsam wanderte mein Blick hinauf und fand sein Ziel in einem Paar grünlich brauner Augen, die mich fragend und mit hochgezogenen Brauen ansahen. Die fast pechschwarzen Haare fielen meinem Bruder verwegen ins Gesicht und waren kaum zu bändigen. Wie vom Sturm ergriffen schossen sie in alle Himmelsrichtungen.
Dann wanderte mein Blick wieder hinab
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