STYX - Fluss der Toten (German Edition)
– einige leise wimmernd, andere laut heulend. Ohne Perspektive auf das Paradies nach dem Tode hatte diese Welt ihren Reiz verloren, war alles farb- und freudlos. So warfen sich verzweifelte Gestalten fast täglich in den friedlichen Styx, ließen sich von ihm verschlingen, setzten ihrem Leid ein Ende.
Von Tag zu Tag sammelten sich neue Seelen am Pfad zum Friedhof und warteten geduldig auf Charons Ankunft. Kam er dann, bot sich immerzu das gleiche Bild: Gerangel und Handgemenge, unzählige Diebstähle von Münzen und ein eiserner Fährmann, der lediglich nach dem Obolus gierte. Keine Gnade für Kinder oder Alte, keine Gnade für diejenigen, die außerstande waren, den Obolus zu begleichen.
Helena ging nicht an das Ufer. Auch wenn man ihr Unrecht getan hatte, so widerstrebte es ihr, dies anderen zuzufügen. Sie war in die Falle geraten, hatte die mahnenden Worte des Vaters missachtet. Nun würde sie hier ausharren müssen.
Sie sehnte sich nach ihren Eltern. Fast täglich pilgerte sie an ihre Grabstelle zurück und wartete. Aber ohne Gewissheit, wann ein neuer Tag angebrochen war, traf sie nie jemanden an. Beinahe war sie versucht zu glauben, dass sich niemand um das Grab kümmern würde. Auch wusste sie, dass es untersagt war, das Ufer zu verlassen. Aber solange Charon nicht da war, würde sie auch niemand richten. Etwas Schlimmeres als dieses Dahinvegetieren konnte ihr ohnehin nicht zustoßen.
Helena schmiegte sich an den kalten Grabstein. Ihr Kopf ruhte auf dem rauen Fels. Sie schloss ihre Augen und weinte bitterlich. Tränen sickerten unaufhörlich aus ihren Augen, tropften auf den Stein und flossen in dünnen Rinnsalen hinab in die Blumen.
»Regnet es?«
Das Mädchen horchte auf. Die Stimme ihrer Mutter! Mit einem Ruck löste sie sich von dem Stein und blickte zum Ende der Grabstelle. Tatsächlich! Ihre Mutter kniete vor den Blumen und starrte auf den Stein. Der Vater stand dahinter, seine Hand ruhte auf ihrer Schulter.
Helenas Blick fiel zurück auf den Grabstein und sie erkannte das dünne Rinnsal ihrer Tränen. Offenbar sah ihre Mutter das ebenfalls. Zögernd kam sie näher und Helena wich im Krebsgang zurück.
Mit dem Finger fuhr ihre Mutter die feuchten Stellen ab, als zeichnete sie ein zartes Muster.
»Mama?«, flüsterte Helena und berührte ihre Mutter sachte an der Hand. Fröstelnd zog diese die Schultern hoch.
»Wir sollten gehen«, sprach Egeas, ihr Vater, und öffnete die Arme, um seine Frau in Empfang zu nehmen.
Kassandra schaute auf ihre Zeichnung, streichelte die Stelle, an welcher Helena sie berührt hatte und blickte danach in den Himmel.
»Kassandra ... jetzt komm«, sagte er erneut.
»Ich liebe dich mein Kind! Ich hoffe, du bist gut im Hades angekommen«, schluchzte sie und steuerte auf Egeas zu.
Fassungslos blieb Helena zurück.
»Wartet, wartet! Bitte Mama, hilf mir!«, brüllte Helena und sprang auf. Dabei warf sie die kleine Grabkerze um. Das Licht erlosch sofort. Langsam sickerte flüssiges Wachs aus dem Glas und erhärtete auf dem kalten Steinboden. Kassandra wirbelte herum und starrte auf die umgestürzte Kerze.
»Egeas, irgendetwas stimmt nicht«, murmelte sie.
Mit großen Schritten lief sie zurück zu dem Grab, ging in die Knie, stellte die Kerze wieder auf und kramte in ihrer Hosentasche nach Streichhölzern.
»Was machst du da?«, schnaubte Egeas ungeduldig.
»Lass mich etwas probieren«, antwortete sie und entzündete die Flamme.
Die Gruppe neuer Seelen, die sich am schmalen Pfad gesammelt hatte, setzte sich langsam in Bewegung. Helena sah ihnen nach. Charons Ankunft stand unmittelbar bevor und sie musste zurück zum Ufer. Dennoch wollte sie unbedingt herausfinden, was ihre Mutter plante.
Unsicher wippte sie auf ihren kleinen Füßen herum.
»Helena, wenn du hier bist, dann gib mir ein Zeichen«, flüsterte Kassandra. Egeas schüttelte den Kopf und warf die Hände in die Luft.
Helena bückte sich und pustete die Kerze aus.
Mit einem Schreckensschrei sprang Kassandra auf, direkt in Egeas Arme. Beide schauten auf den rußenden Docht der erloschenen Kerze.
»Mach das nochmal«, bat Egeas.
Kassandra entflammte erneut den Docht und Helena pustete die Flamme aus. Kassandra fiel ihrem Mann weinend um den Hals. Erfreut, dass ihre Eltern das sehen konnten, hüpfte Helena auf und ab. Vielleicht konnte sie ihnen somit eine Nachricht übermitteln.
Helena blickte zum Styx. Schwarze Wolken hingen über dem Fluss. Sie vernahm ein leises Raunen und wusste, dass es Zeit
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