STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Antwort war ein weiteres Lachen. Plötzlich erinnerte ich mich an jenen Tag auf dem Feld.
Doch heute war mein Bruder nicht da, konnte mir nicht helfen. Ich musste es allein schaffen!
Wieder verlängerte ich meine Schritte. Mein ganzer Körper schmerzte, doch ich ignorierte es. Das Wichtigste war, eine Antwort zu finden. Wer war sie?
Der Schatten stoppte in einiger Entfernung. Vor mir lag ein breiter Fluss. Vorsichtig kletterte ich den steinigen Hang zum Ufer hinab.
Das Wasser des Flusses war nahezu pechschwarz, so dunkel, dass man nichts in ihm erkennen konnte. Unsicher sah ich die Frau an. Wieder erklang ihr Lachen. Es schien mir fast, als würde sie mich zu sich winken. So groß auch meine Angst davor war, den Fluss zu überqueren, wollte ich doch wissen, was es mit dieser seltsamen Frau auf sich hatte. Und so nahm ich allen Mut zusammen und tauchte in das dunkle Wasser ein. Erschrocken schrie ich auf, als die ganze Welt um mich herum in der Dunkelheit verschwand.
*
»Warum flüstern die so?«
Gebannt verfolgten wir von unserem Versteck aus unsere Eltern, die unten im Wohnbereich miteinander tuschelten. Was hatten die beiden vor? Immer konnte ich Satzfetzen wie »... das ist unser Ende ...«, oder »... wir müssen irgendetwas unternehmen ...« hören, doch verstand ich nicht, worüber die beiden sprachen. Steckten wir in Schwierigkeiten?
»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte Fynn.
Er versuchte mich zu beruhigen, doch ich spürte, dass er genauso viel Angst hatte wie ich.
Unsere Mutter lag wie immer auf ihrem Bett, die Augen starr an die Decke gerichtet, der Mund halb offen. Sie schien Vater nicht wirklich zuzuhören. In den letzten Jahren war sie immer schwächer geworden, hatte immer weniger gesprochen.
Seit dem letzten Winter sprach sie nur wenige Worte, stand nur noch selten aus ihrem Bett auf. Ich konnte ganz genau erkennen, wie sehr es unseren Vater schmerzte.
Plötzlich sah er zu uns hinauf. Schnell duckten wir uns und hofften, dass er uns nicht gesehen hatte. Wenn er uns dabei erwischte, wie wir ihn belauschten, setzte es bestimmt Prügel.
Dann hörten wir seine Schritte. Schnell huschten wir zurück in unsere Betten, doch die Schritte verklangen. Angestrengt versuchte ich zu hören, was in dem Raum unter uns geschah. Ich hörte die dumpfe Stimme meines Vaters, die Tür, die knarrend aufging, dann eilige Schritte die Treppe hinauf. Angst schnürte mir die Kehle zu und ich stellte mich schlafend. Unbarmherzig wurde meine Decke zurückgerissen. Ein harter Griff umfasste meinen Arm und zog mich hoch.
»Aua!«, schrie ich auf, als mein Vater mich hinter sich her zog. Ich sah mich um. Fynn wurde von einem fremden Mann mit sich gezogen.
»Was soll das Vater?«, schrie ich, den Tränen nah. »Was machst du mit uns?«
Doch Vater antwortete nicht.
Er sah mich nur mit einem Blick an, den ich nicht zu deuten wusste.
Ich verstand nicht, warum er uns fortschickte.
Wir wurden unsanft auf einen Karren geworfen. Ängstlich klammerte ich mich an meinen Bruder. Ich spürte, wie schnell sein Atem ging, und sah die gleiche Panik in seinen Augen geschrieben, die auch ich fühlte. Wie Ertrinkende hielten wir einander fest, gaben uns gegenseitig Halt, während die Kutsche über den unebenen Weg rollte. Ein letztes Mal warf ich einen Blick auf mein Elternhaus, auf die Weiden, auf denen ich meine Kindheit verbracht hatte.
Dann wandte ich mich ab.
Tränen verschleierten meine Sicht.
*
Ich fiel immer tiefer in die Dunkelheit. Der Wind strich rasend schnell an meinem Körper vorbei und wirbelte mich durch die Luft. Meine Orientierung hatte ich vollends verloren. Ich wusste bald schon nicht einmal mehr, wo oben und wo unten war. Grell dröhnte das Lachen der Frau in meinen Ohren.
Es schien einfach nicht enden zu wollen. Immer tiefer fiel ich und fürchtete mich vor dem harten Aufprall. Ich spürte, wie ich auf dem Wasser aufschlug und das kühle Nass mich umfing. Rudernd riss ich die Arme hoch, versuchte mich über der Oberfläche zu halten, doch eine unsichtbare Hand zog mich in die Tiefe. Verzweifelt strampelte ich um mein Leben, hustete, als ich die lebensrettende Luft in meine Lungen sog. Immer wieder spürte ich das Nass auf meinem Gesicht. Meine Augen brannten.
Wieder trat ich zu. Diesmal schien ich meinen Angreifer getroffen zu haben. Mit einem lauten Aufschrei gab er mich frei.
Panisch versuchte ich Land zu erreichen, doch durch meine Augen sah ich nur noch wie durch ein milchiges Fenster. Wo war das
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