STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Unsterblichkeit finden wollten?
Sie sind tot , wisperte eine leise, klare Stimme in Kassandras Kopf. Sie sind alle tot.
»Wir werden Mykene in wenigen Tagen erreichen, wenn die Götter uns gnädig sind.« Agamemnons Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Warum sollten sie Gnade mit uns haben? Wir sind für sie nicht mehr als Spielzeuge«, murmelte sie leise und stürzte ihren Wein herunter, obwohl ihr Magen sich schmerzhaft zusammenzog.
»Ihr seid verbittert, meine Teure. Hadert nicht mit den Göttern! Ihr seid eine Priesterin der Pallas, vergesst das nicht.«
»Ich bitte darum, mich zurückziehen zu dürfen. Mir ist nicht wohl.«
Agamemnon nickte und Kassandra erhob sich und verließ hastig das Zelt, das man für den König an Deck des Schiffes errichtet hatte.
*
Es war eine Stunde nach Sonnenuntergang, als der Gott ihre Kammer betrat. Kassandra bestickte ein Gewand für Helenos, ihren Zwillingsbruder, mit einem Saum aus goldgewirkten Fäden, als hinter ihr das helle Lachen des Unsterblichen erklang.
»Hast du auf mich gewartet, mein schönes Mädchen?«
Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, hielt den Blick zu Boden gerichtet und senkte demütig den Kopf. »Mein Gebieter, warum kommt Ihr zu mir? Ich bin nur eine einfache Priesterin, nicht wert, Euch auch nur unter die Augen zu treten.« Sie hörte ihn nicht näher kommen, spürte aber seine Hand, die über ihren Nacken glitt, sich an ihre Wange legte und sie sanft zwang, ihn anzusehen.
»Warum sollte so viel Schönheit eines Gottes nicht wert sein?«, fragte er leise und küsste sie.
*
»Ihr solltet höflicher zu Agamemnon sein. Wir verdanken ihm unser Leben und er ist es, der entscheiden wird, was weiter mit uns geschieht.« Marpessa löste Kassandras langes, schweres Haar aus dem Knoten, zu dem sie es am Morgen aufgesteckt hatte und begann, ihre Kopfhaut mit den Fingerspitzen zu massieren.
»Was soll schon mit uns geschehen? Wir werden mit ihm nach Mykene gehen, als seine Dienerinnen. Er mag freundlich und zuvorkommend erscheinen, aber sobald wir sein Land und seinen Palast erreicht haben, werden wir nur noch dazu da sein, seinen Triumph vollkommen zu machen. Eine Prinzessin Trojas als Dienerin in seinem Hause wird für ganz Griechenland ein Zeichen seines Sieges sein.«
Kassandra schloss die Augen und überließ sich Marpessas geschickten Fingern. Seit dem Morgen quälten sie Kopfschmerzen, die wie feine Nadeln hinter ihrer Stirn in ihren Schädel stachen.
Marpessa schien einen Moment nachzudenken.
»Es fällt mir manchmal schwer, zu glauben, dass Agamemnon für Trojas Untergang verantwortlich sein soll«, brachte sie schließlich hervor. »Wenn ich ihn hier auf dem Schiff sehe, scheint er einfach nur ein gütiger alter Mann zu sein. Ich kann nicht glauben, dass er wirklich dieses Ungeheuer ist.« Marpessa stockte und Kassandra hörte, dass sie schluckte und den Tränen nah war.
Ihre Dienerin war noch sehr jung. So jung, dass sie sich kaum an die Zeit vor dem Krieg erinnern konnte. Die wenigen Jahre ihrer Kindheit, in denen Frieden in Troja geherrscht hatte, mussten ihr vorkommen wie ein verlorenes Paradies. Nacheinander hatte der Krieg ihren Vater, die Brüder und schließlich den Geliebten geraubt.
Kassandra seufzte. »Er ist kein Ungeheuer. Das war er nie. Keiner von ihnen war es. Odysseus nicht, Diomedes nicht, Achilles nicht. Nicht einmal Ajax.« Sie spürte, wie Marpessa bei diesen Worten zusammenzuckte. »Letztlich waren sie alle nur Werkzeuge der Götter.«
*
»Ich möchte dir ein Geschenk machen«, sagte der Gott und legte die Lyra zur Seite, auf der er ihr vorgespielt hatte.
»Mein Herr ...«
»Ich würde dir Schönheit schenken, aber schon jetzt bist du schöner als eine sterbliche Frau es sein sollte. Selbst Aphrodite würde neidisch werden, wenn sie dich erblickte.« Er kicherte und wirkte einen Augenblick lang nicht mehr ganz so anbetungswürdig.
Dann kehrte der fremdartige Glanz in seine hellen Augen zurück und er sprach weiter: »Ich verleihe dir die Gabe der Voraussicht, wie es einer Priesterin gebührt. Du bist mehr als nur eine schöne Frau, du bist auch klug und stark. Nutze diese Gabe weise und viel Leid kann Troja erspart bleiben.«
Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn.
Dann erhob er sich und verschwand in einem goldenen Licht, welches plötzlich das dunkle Zimmer erfüllte, als sei der Morgen hereingebrochen. Sein Lachen schwebte noch einen Lidschlag lang im Raum, dann verklang es und Kassandra war
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