STYX - Fluss der Toten (German Edition)
einmal mein Freund Wolfgang Lehms.
Wäre es nicht einfach, alles als eine komplexe Geistesverwirrung oder einen bizarren Fiebertraum abzutun?
Sicher wäre es das.
Wäre es, ist es aber nicht.
Denn wie ich eingangs andeutete: So ist der Styx nicht.
Man durchfährt nicht seine Wogen, um anschließend wieder in diese Welt des Lebendigen zurückzukehren.
Natürlich, ich könnte versuchen mir einzureden, ich sei nicht zu weit gegangen, nicht wie Wolfgang. Ich hätte noch einmal Glück gehabt.
Aber eher sieht es mir danach aus, dass es auch mich hinüberzieht, dass dies die Bedeutung dessen ist, was mich in der Nacht schweißgebadet hochfahren lässt, was ich immer deutlicher in meinen Träumen – und längst nicht mehr nur dort! – sehe: Jene verschwommenen trügerischen Landschaften, deren Konturen dennoch ins Auge schneiden, vor denen flehend und vor Wahnsinn bebend Wolfgang steht, seine Geige umklammernd, in wehende Tücher gehüllt – darüber das brennende, starrende Auge, im Blick mein Urteil verkündend.
Kassandra
Elisa Wächtershäuser
Der Horizont brannte.
Die Flammen leckten wie gierige Zungen am düsteren Nachthimmel. Rauchschwaden, gelb verfärbt wie ein schreckliches Zerrbild der Morgenröte, hatten die Sterne verschluckt. Der Boden unter ihren Füßen war rissig und trocken. Flach und ohne jede Vegetation lag die Ebene vor ihr, bis sie jäh in der Flammenwand endete. Hier war von dem tobenden Inferno nichts zu spüren. Die Entfernung war zu groß, als dass der Wind das Brüllen des Feuers bis zu ihr hinübertragen konnte.
Auch von der Hitze merkte sie nichts. Sie fror in ihrem dünnen Kleid und schlang die Arme um ihren Körper. Müde setzte sie einen Fuß vor den anderen. Gerne hätte sie sich hingesetzt und ein wenig ausgeruht, aber die leere Ebene machte ihr Angst. Trotz des Brandes lag ein graues, drückendes Zwielicht über dem Ödland. Sie senkte den Blick, um sich nicht in der Unendlichkeit zu verlieren und ging langsam weiter, als plötzlich neben ihr ein leises Lachen erklang.
*
Kassandra erwachte zitternd und mit pochenden Kopfschmerzen.
Mühsam richtete sie sich auf und wickelte die dünne Decke fest um ihre Schultern. Noch immer hielt der düstere Traum sie gefangen und sie musste einen Augenblick innehalten, um den Schwindel niederzukämpfen.
Dann richtete sie sich mühsam auf und verließ das Zelt. Es war kalt auf dem Schiff. Spritzwasser und Regen hatten Kleidung und Decken durchtränkt, die der kalte Nachtwind nicht trocknen konnte. Der Großteil der Besatzung schlief und auch die Gefangenen waren eng aneinander gedrängt auf den nassen Planken vor Angst und Erschöpfung eingeschlafen.
Vorsichtig, um niemanden zu wecken, trat sie an die Reling.
Das Meer lag ruhig da, der Nachthimmel spiegelte sich auf der glatten Wasserfläche. Dennoch verursachte das Schwanken des Schiffes Kassandra Übelkeit. Schaudernd dachte sie an die endlosen Tage, als Stürme und Unwetter die See aufgepeitscht hatten, an meterhohe Wellen mit schäumenden Kämmen, die sich wie Poseidons Schlachtrosse auf das Schiff zu stürzen schienen, während dieses hilflos durch die Wellentäler taumelte.
Doch nun war alles ruhig, der Himmel sternenklar.
Fast lautlos glitt das Schiff durchs Wasser, nur hin und wieder drang das Schnarchen der Schlafenden an Kassandras Ohr. Es würden noch einige Stunden vergehen, bevor Phoibus mit seinem Sonnenwagen die Dämmerung brachte.
Kassandra schauderte.
Phoibus Apollon ...
*
Ein großer, schlanker Mann mit hellem lockigem Haar.
Die grelle Mittagssonne ließ es schimmern wie flüssiges Gold.
Niemand schien den Fremden zu bemerken, der auf den Stufen zum Tempel saß und mit geübten Fingern an den Seiten seiner Lyra zupfte. Kassandra ging zu ihm herüber, gebannt von seiner Schönheit und Fremdartigkeit. Er sah zu ihr auf und beendete sein Spiel.
»Setzt dich zu mir, mein schönes Kind.«
Die Stimme des Gottes was sanft und leise, seine hellen Augen freundlich.
Die junge Priesterin nahm neben ihm Platz.
»Du weißt, wer ich bin?«
Sie wagte es nicht, den Blick zu heben und ihn anzusehen. »Mein Gebieter ...«, begann sie mit rauer Stimme.
Phoibus Apollon legte seine Hand auf ihren Arm. »Nicht doch, mein schönes Mädchen. Sieh mich an. Es stimmt also, was die Leute sich erzählen. König Primos hat eine Tochter, so schön, dass sich alle Männer Griechenlands und Trojas in sie verlieben würden. Und doch hat sie ihr Leben den Göttern geweiht.« Er legte eine Hand
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