STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Eure Gefangene bin, wie Ihr sagt, warum holt Ihr Euch dann meine Dienerin ins Zelt?«
Entschlossen zog sie die Plane zurück und wollte das Zelt verlassen, da wurde ihr schwarz vor Augen.
*
Kassandra stürzte.
Das Brüllen des Feuers fraß ihre Schreie, die Glut versengte ihre Kleidung und die Funken brannten sich in ihre Haut. Tief unter ihr brodelte der Phlegethon, der Flammende, der erste Fluss der Unterwelt. Sein Wasser brannte, hunderte Meter loderten die Flammen in den rauchgeschwängerten Himmel auf.
Im Fallen begriff Kassandra, dass es kein Wasser war, das diese unverlöschlichen Flammen nährte. Es war kochendes Blut.
*
Ein kühler Wind zupfte an Kassandras Haar und einige Strähnen lösten sich aus dem kunstvoll aufgesteckten Knoten. Der Wind trocknete ihren Schweiß, war angenehm erfrischend nach der drückenden Schwüle in der Stadt und dem anstrengenden Aufstieg.
Sie hatten eine saftige grüne Wiese erreicht, von der man einen weiten Ausblick über das Ida-Gebirge hatte und über die weite Ebene, die vor Troja lag. Einige Schafe weideten hier und hinter der Wiese stieg der Hang steil an. Ein lichter Kiefernwald hatte den Gipfel erobert.
Kassandra wandte sich um und wartet auf ihre Begleiter, die keuchend und mit Schweißperlen auf der Stirn die letzten Meter des steilen Bergpfades erklommen und die Wiese erreichten. Ihre Schwester Krëusa ließ sich ins Gras fallen und rang nach Atem.
Ihr Mann Aeneas setzte sich grinsend zu ihr. »Wir sind noch nicht oben, meine Liebe. Du wirst wohl noch ein wenig durchhalten müssen.«
Krëusa lachte und wieder einmal wurde Kassandra schmerzlich bewusst, wie sehr sie die Schwester vermisste. In den letzten Jahren hatten ihre Pflichten als Priesterin ihr nur wenig Zeit für ihre Familie gelassen. Und seit Krëusa vor wenigen Wochen geheiratet hatte, sah sie die Schwester kaum noch.
»Nichts und niemand kann mich dazu bewegen diese herrliche Wiese zu verlassen, um auf einen kahlen, windigen Gipfel hinaufzuklettern. Ich bleibe hier!«, verkündete Krëusa und wehrte alle Überredungsversuche ihres Mannes entschieden ab. Jetzt hatte auch Kassandras Zwillingsbruder Helenos, der die kleine Polyxena auf den Schultern trug, die Wiese erreicht. Jauchzend ließ sich Polyxena von Helenos Schultern heben und begann sofort damit, einen bunten Blumenstrauß zu pflücken.
»Ich werde mir einen Kranz daraus flechten, wie die Krone der Göttin Persephone!«, rief sie und Kassandra musste schmunzeln. Polyxena, die jüngste Tochter von Priamos und Hekabe war ein lebhaftes Kind und trotz ihrer neun Jahre fiel es ihr noch immer schwer, stundenlang still da zu sitzen, um mit den anderen Frauen zu sticken, zu weben oder das Leierspiel zu erlernen. Viel lieber spielte sie in den Gärten oder sah ihrem großen Bruder Hektor zu, wie er auf der Ebene seine wilden Pferde zähmte. In vielen Dingen erinnerte sie Kassandra daran, wie sie selbst als Kind gewesen war.
»Ich würde gern noch bis zum Gipfel hinaufsteigen«, sagte Kassandra und blickte sehnsüchtig zu dem kleinen Kiefernwäldchen hinüber. Es war lange her, dass sie den höchsten Berg des Ida-Gebirges erklommen hatte, und sie wusste noch, wie nah sie sich den Göttern dort gefühlt hatte. Als könnte sie ihren Lufthauch in Wind spüren und brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Ein Nähe, die sie in den Tempeln Trojas niemals empfunden hatte.
»Dann werde ich mich hier ausruhen bis du zurückkommst. Der Abstieg wird schon anstrengend genug werden. Willst du meine Schwester begleiten, Aeneas?«, sagte Krëusa und streckte sich im Gras aus. Ihr Mann sah einen Moment unschlüssig zwischen ihr und Kassandra hin und her, nickte dann jedoch.
»Dann werde ich wohl hier bleiben und auf unseren Wildfang aufpassen«, rief Helenos und rannte hinter Polyxena her, die das Interesse an den Blumen bereits verloren hatte und damit begann, die Schafherde auseinanderzutreiben.
Kassandra und Aeneas machten sich an den Aufstieg. Im Schatten der Kiefern war es angenehm kühl und Kassandra genoss den Duft des Nadelholzes. Aeneas war schweigsam. Und da sie nicht wusste, worüber sie mit ihm reden sollte, blieb auch sie still. Sie überlegte, was sie über diesen Mann wusste, der vor kurzem ihre Lieblingsschwester geheiratet hatte. Er stammte aus dem Herrscherhaus der Dardaner und war der Sohn des Königs von Dardania. Sein Vater Anchises galt als so schön, dass sich angeblich sogar die Liebesgöttin Aphrodite in ihn verliebt
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