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STYX - Fluss der Toten (German Edition)

STYX - Fluss der Toten (German Edition)

Titel: STYX - Fluss der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannt
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an die Dienerin. Die Frau war vor vielen Jahren die Amme ihrer Schwester Polyxena gewesen und hatte ihr später als Zofe gedient. Sie hatte hinter der Prinzessin gestanden, als diese sich einen Dolch in die Brust stieß, und hatte sie aufgefangen, als sie mit blutverschmierten Händen zusammengebrochen war. Kassandra biss die Lippen zusammen und kämpfte gegen die grausame Enge an, die ihr die Kehle zuschnürte.
    »Ich weiß es nicht, Prinzessin«, sagte die Alte.
    Etwas in ihrer rauen Stimme machte Kassandra stutzig.
    Doch sie gab der Dienerin mit einem Wink zu verstehen, sie alleine zu lassen, wickelte sich in die Decke und starrte zu der grauen Zeltplane hinauf.
*
    Sie musste wieder eingeschlafen sein, und als sie von der Sonne geweckt wurde, konnte sie sich an keinerlei Träume erinnern.
    Fast kam es ihr vor, als seien die vergangenen Nächte mit ihren Schrecken, diese ganze qualvolle Schiffsreise, nur ein Fiebertraum gewesen. Die See war noch immer ruhig und ein sanfter, stetiger Wind blähte das weiße Segel, sodass sie schnell vorankamen. Wie jeden Morgen half Marpessa ihr beim Ankleiden und steckte ihr die Haare auf. Doch heute sah sie müde und abgespannt aus, hatte dunkle Ringe unter den Augen und ihre Finger waren fahrig und ungeschickt. Kassandra wartete schweigend ab bis Marpessa fertig war, dankte ihr dann und ging zu Agamemnons Zelt herüber.
    Der König trug ein langes Gewand aus rotgefärbtem Leinen, mit feiner Silberstickerei am Hals und an den Ärmeln. Das graue Haar, das trotz seines Altern noch immer dicht wie die Mähne eines Löwen war, hatte er sich aus der Stirn gekämmt und mit einem schmalen Goldreif fixiert.
    Kassandra nahm ihm gegenüber Platz, ließ sich von einer Dienerin Wein einschenken, nahm aber nichts von dem Brot und dem mit Honig gesüßten Kuchen. Kaum war ihr der Geruch der vergorenen Trauben in die Nase gestiegen, hatte sich ihr Magen verkrampft. Sie musste die Lippen aufeinanderpressen, um nicht zu würgen.
    Agamemnon beachtete sie nicht, kaute ungerührt auf dem süßen Kuchen und stürzte seinen Wein in einem Schluck herunter. Dann sagte er unvermittelt: »Bald ist diese anstrengende Reise vorbei, meine Liebe.«
    Kassandra blickte nicht auf.
    Seine Freundlichkeit stieß sie ab.
    Dachte er, sie könnte ihm verzeihen, was sein Krieg ihr und ihrem Volk angetan hatte?
    »Es wird Euch gefallen in Mykene. Ihr werdet es dort gut haben.«
    »Als Eure Dienerin, mein Herr?«, fragte sie spöttisch.
    Agamemnon schüttelte den Kopf.
    »Wie könnte ich Euch zu einer Dienerin machen, wo Ihr doch eine Prinzessin Trojas seid? Habt keine Sorge, Ihr werdet keine niederen Arbeiten verrichten müssen. Ihr sollt vielmehr meiner Frau und meinen Töchtern Gesellschaft leisten. Man sagt, Ihr seid bewandert in der Kunst der Stickerei. Auch Eure schöne Stimme und Euer Talent für das Leierspiel haben sich in Griechenland herumgesprochen. Klytaimnestra wird entzückt von Euch sein.«
    »Man sagte mir, dass Eure Frau Euch hasst«, erwiderte Kassandra ruhig.
    Das Gesicht des alten Königs schien zu erbleichen und seine schmalen Lippen bebten merklich. Dann erlangte er wieder die Gewalt über sich zurück und schüttelte den Kopf. »Ihr irrt Euch, Kassandra. Klytaimnestra hasst mich nicht. Sie mag voller Wut und Trauer gewesen sein über Iphigenies Verlust, aber mit der Zeit hat sie begriffen, dass es der Wille der Götter war, gegen den wir Sterbliche nicht aufbegehren können. Meine Boten haben mir berichtet, dass sie unsere Rückkehr mit Ungeduld erwartet.«
    Kassandra erschauderte bei den Worten des Königs.
    Der dunkle Schatten einer Vorahnung schien sich über ihren Geist zu legen, doch die Vision, die sie schon halb erwartet hatte, kam nicht. Vielleicht war es die Ruhe, mit der Agamemnon vom Tod seiner Tochter Iphigenie erzählte, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Jener Tochter, die er selbst der Artemis geopfert hatte, um mit günstigem Wind nach Troja zu segeln. Sie suchte in seinem Augen nach der Grausamkeit, von der seine Taten kündeten, aber sie sah nur klare schwarze Spiegel, aus denen sie selbst sich entgegenblickte.
    »Ich bitte darum, mich zurückziehen zu dürfen«, murmelte sie und stand auf, ohne seine Antwort abzuwarten.
    Als sie sich erhob wurde ihr schwindelig und sie merkte, dass ihre Beine zitterten.
    Sie hielt einen Moment inne, drückte den Rücken durch und wandte sich, schon am Zeltausgang, noch einmal Agamemnon zu. »Wenn ich wirklich Euer Gast und nicht

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