STYX - Fluss der Toten (German Edition)
allein.
*
Der Tag war viel zu schnell vorbeigegangen.
Man hatte die Lichter an Deck gelöscht und Kassandra lauschte Marpessas gleichmäßigem Atem neben sich. Sie fürchtet sich vor dem Schlaf und vor den Träumen, die er bringen würde. Hypnos, der Traumbringer, galt nicht umsonst als Bruder des Todes. Seit sie Troja verlassen hatte, war Kassandra dies schmerzlich bewusst geworden.
Sie schloss die Augen, um den Kopfschmerzen zu entkommen, die sie noch immer peinigten.
*
Die Ebene war wieder so kahl und leer, als wäre Apollon niemals hier gewesen.
Die Feuerwand war näher gekommen. Oder vermutlich war sie selbst es, die immer weiter auf die Flammen zu gegangen war, ohne es zu merken, während ihr Körper und mit ihm ein Teil ihres Geistes auf dem schaukelnden Schiff durch die Ägäis fuhren.
Das Prasseln der Flammen war so laut, dass sie ihren Atem, der lange das einzige Geräusch in der unheimlichen Stille gewesen war, nicht mehr hören konnte. Es war, als verlöre sie dadurch die letzte Erinnerung, die ihr noch von ihrem Leben geblieben war.
Das Feuer tobte laut wie ein Gewittersturm.
Rauchfetzen trieben vorbei, um sich über der weiten Ebene hinter ihr zu verlieren. Einige schienen an ihrem Kleid hängenzubleiben, faserten auseinander und hüllten sie ein wie ein düsterer Mantel.
Die Hitze war kaum noch zu ertragen.
Sie spürte, wie ihre trockenen Lippen aufplatzten.
Mit der Zunge leckte sie das Blut ab, das träge aus der schmalen Wunde quoll und befeuchtete damit ihrem Gaumen.
Sie fühlte sich unendlich müde.
Mit gesenktem Kopf ging sie weiter, Schritt für Schritt, über den Boden, der so heiß war, dass ihre Fußsohlen in den dünnen Sandalen zu schmerzen begannen. An einigen Stellen quoll Rauch aus dem Boden und breitete sich wie eine Decke aus, bevor er langsam nach oben stieg, so dass sie das Gefühl hatte, über Wolken zu gehen.
Das Atmen fiel ihr immer schwerer.
Jeder Atemzug brannte in ihrer Kehle und der Rauch schien sich in ihrer Lunge festzusetzen, dass sie glaubte, ersticken zu müssen.
Dennoch ging sie weiter.
Dies war der Weg, der ihr vorgezeichnet gewesen war; von jenem Tage an, da Hekabe, ihre Mutter, sie in ihrem Leib empfangen hatte. Sie würde nicht zögern, ihn zu Ende zu gehen. Sie zog ihren Schleier vor Mund und Nase und zwang ihre wunden Füße, weiterzugehen. Ihre Augen tränten und die Hitze ließ ihre Tränen auf der Haut verdunsten.
Plötzlich blieb sie stehen.
Vor ihr hatte sich das Erdreich aufgetan, fiel steil in eine tiefe Schlucht hinab.
*
Es waren schrille, panische Schreie, die Kassandra weckten.
Es kostete sie viel Mühe die verklebten Augenlider zu heben. Erst, als sie ein erschrockenes Gesicht in der Dunkelheit über sich entdeckte, wurde ihr klar, dass sie selbst es war, die schrie.
»Prinzessin Kassandra, beruhigt Euch. Keiner will Euch etwas zu Leide tun.«
Die alte Dienerin redete sanft und bestimmt auf sie ein, bis Kassandras Atem sich beruhigte und die Spannung aus ihrem Körper wich. Erschöpft ließ sie sich auf ihr Lager zurücksinken und schloss einen Moment die Augen.
»Wo ist Marpessa?«, fragte sie schließlich.
Die alte Dienerin tat, als habe sie nichts gehört, und setzte ihr einen Becher Wasser an die Lippen.
Kassandra trank gierig. Ihr Mund war trocken, ihre Kehle schmerzte beim Schlucken, als hätte sie tagelang nichts getrunken. Erst als der Becher leer war, setzte sie ihn ab und richtete sich vorsichtig auf. Es war noch tiefe Nacht, doch Kassandra hörte am Atem der anderen an Deck, dass kaum jemand wirklich ruhte. Ihr Anfall war nicht unbemerkt geblieben.
Nachdem die Griechen Troja eingenommen hatten, und Kassandras Visionen sich erfüllt, hatte sie geglaubt, man werde aufhören, sie als verrückte Priesterin zu betrachten – die schöne Tochter des Königs Priamos, die leider schon in jungen Jahren ein Opfer des Wahnsinns geworden war.
Doch die Glut in den zerstörten Straßen war noch nicht erloschen, der schwarze Qualm der Totenfeuer gerade erst entfacht, als die ersten Stimmen – zunächst im Geheimen, dann immer lauter – davon flüsterten, sie, Kassandra, die Seherin, habe die Götter erzürnt und das Unglück über die Stadt an den Ausläufern des Ida-Gebirges gebracht. Vermutlich glaubten sie, die Schreie Kassandras seien nur die Vorboten weiterer Schrecknisse, die über sie hereinbrechen würden.
Doch Kassandra wusste es besser: Die Träume, die sie quälten, waren keine Visionen.
»Wo ist Marpessa?«, wandte sie sich wieder
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