STYX - Fluss der Toten (German Edition)
des Flusses.
*
Als Kassandra den Kopf hob, sah sie, dass sie auf dem Boden lag. Das stachelige, kurze Gras stach durch ihr Kleid und kitzelte die nackte Haut an ihren Armen.
Neben ihr lag Aeneas, die Augen geschlossen, sodass seine langen Wimpern auf seinen Wangen ruhten. Kassandra konnte sich nicht erinnern, dass sie sich hingelegt hatten. Sie erinnerte sich an den Kuss am Rande des Abgrunds, war sich aber sicher, dass sie nicht mit ihm geschlafen hatte.
Was war geschehen?
Sie wollte gerade aufstehen, als sich eine warme Hand auf ihre Schulter legte und sie sanft zu Boden drückte.
»Bleib doch liegen, mein schönes Kind«, sagte Apollon und setzte sich lautlos neben sie.
Verlegen strich Kassandra ihr Kleid glatt, das an den Beinen hochgerutscht war. Der Gott griff nach ihrer Hand und sie erschauderte.
»Du hast deine Gabe weise genutzt, meine Liebste. Das Volk von Troja spricht voller Ehrfurcht von seiner schönen Prinzessin, die im Athene-Tempel die Zukunft weissagt.«
»Ich danke Euch für dieses Geschenk, mein Gebieter.«
»Es macht mich stolz, dass du es würdig nutzt. Doch bist du glücklich mit dem Schicksal, das du gewählt hast, Kassandra? Die Priesterinnen der Athene haben gewisse Pflichten ...«
Seine Worte ließen Kassandra zusammenzucken und unwillkürlich huschte ihr Blick zu dem schlafenden Aeneas hinüber.
Apollon lachte. »Oh, nicht einmal du bist gefeit vor den Verlockungen der irdischen Welt!«
Kassandra sah verschämt zur Seite. »Ich habe meine Wahl getroffen und werde den Weg meiner jungfräulichen Göttin bis zum Ende gehen.«
Wieder lachte Apollon.
Dann beugte er sich vor, sodass seine Lippen beinahe ihre Wange berührten. »Wenn du dich schon keinem Sterblichen hingeben darfst, warum dann nicht einen Gott? Meine Schwester Pallas Athene wird es dir nicht verübeln.« Er sprach leise, kaum mehr als ein Flüstern, und seine Stimme schien Kassandra zu lähmen. Ihr Herz begann wild in ihrer Brust zu hämmern, doch sie konnte sich nicht rühren. Der Gott strich über ihren Hals, ließ seine Hände über ihre Schultern gleiten, über ihren Bauch und ihre Hüfte. Dann sah er sie lange an und küsste sie schließlich. Seine Lippen waren so warm wie seine Hände. Eine seltsame Wärme, die in keiner Weise menschlich war. Kassandra dachte an Aeneas, dessen Lippen rau und härter als die des Gottes gewesen waren, und doch war sein Kuss tausendmal schöner gewesen. Sie sah Apollon an, und als sie in seine hellen Augen blickte, fand sie dort keine Liebe, nicht einmal Freundlichkeit, sondern nur unendliche Gier.
Panik durchströmte sie, ihre Brust schien plötzlich wie von Fesseln zusammengeschnürt zu sein, ihr Atem ging schnell und stoßweise und die Lippen des Gottes auf den ihren verursachten ihr einen unbeschreiblichen Ekel.
Sie stieß ihn von sich, sprang keuchend auf und rannte los, doch eine unsichtbare Hand schien sie festzuhalten, sie stolperte, fiel, wollte sich erneut aufrappeln und brach wieder in die Knie. Zitternd wandte sie sich zu Apollon um. Der Gott hatte sich erhoben, stand übermenschlich groß da, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Ein unheimliches Licht schien um ihn herum zu leuchten.
»Du weist mich ab, Priesterin?«
Seine Stimme war dunkel und drohend.
Es fiel Kassandra unendlich schwer, zu sprechen. Ihre Kehle war eng und ihr Mund konnte kaum die Worte formen.
»Ich habe meiner Göttin gelobt, jungfräulich wie sie zu bleiben. Ich werde meinen Eid nicht brechen.«
Sie sah noch, wie Apollon einen Schritt auf sie zukam, dann verlor sie das Bewusstsein.
*
»Du hast damals die falsche Wahl getroffen.«
Unvermittelt war Apollon neben ihr aufgetaucht. »In gewisser Weise trägst du allein die Schuld an Trojas Untergang.«
Kassandra starrte weiter auf den Fluss. »Wo bin ich hier?«
»Weißt du das denn nicht, schöne Priesterin?« Seine Stimme war weich, als redete er mit einer Geliebten. »Die ist der Kokytos, der Fluss des Wehklagens. Du hast von ihm getrunken und erkannt, dass du dein Leben verloren hast. Du hast geweint, und der Fluss hat deine Tränen aufgesammelt und bringt sie zum Acheron, in den er mündet. Der Acheron ist der Fluss der Trauer, gefüllt mit den Tränen der Verstorbenen. An seinem Ufer wartet Charon, der Fährmann, um die Seelen der Toten sicher in den Hades zu geleiten.«
»Ich muss weitergehen«, sagte sie leise.
Apollon schüttelte den Kopf.
»Nein, mein Kind, du solltest umkehren.«
»Von hier gibt es keinen Weg
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