STYX - Fluss der Toten (German Edition)
Steine unter der Oberfläche verborgen. Mit Mühe fand sie eine Stelle, die ihr einigermaßen sicher erschien. Vorsichtig suchte sie Halt auf einem rauen Stein, ging dann in die Knie und schöpfte etwas Wasser mit den Händen. Obwohl sie spürte, wie es ihre Lippen und ihren Mund nässte, und sie gierig schluckte, stillte das Wasser nicht ihren Durst. Sie beugte sich erneut vor, trank, doch der Durst wich nicht. Das Verlangen nach Wasser wurde übermächtig. Kassandra legte sich auf den Bauch, kroch weiter nach vorn an den Rand des Felsen, bis sie ihr Gesicht ins Wasser tauchen und trinken konnte. Sie schluckte hastig, musste husten. Wasser drang in ihre Lunge, floss durch ihre Nase, nahm ihr den Atem.
Sie wollte schreien, verlor den Halt und stürzte in den reißenden Strom.
*
Am Morgen erblickten sie in der Ferne die Küste. Sie hatten Mykene erreicht.
Marpessa wirkte gelöst und glücklich, obwohl sie müde sein musste. Kassandra hatte gesehen, wie sie sich in den frühen Morgenstunden heimlich aus Agamemnons Zelt geschlichen hatte.
Sie seufzte und schob die Sorgen um ihre Dienerin beiseite.
Marpessa gab sich besonders viel Mühe, Kassandras Haare zu frisieren. Sie kämmte sie so lange und gründlich, bis sie glänzten als habe der Salzatem, der See, sie niemals stumpf werden lassen. Danach flocht sie mehrere dicke Zöpfe, die sie miteinander verdrehte und zu einem eleganten Knoten am Hinterkopf aufsteckte.
Sie half Kassandra in eines der Kleider, die Agamemnon als Kriegsbeute aus Troja mitgebracht hatte. Kassandra selbst hatte nur wenige Kleider besessen, da sie schon viele Jahre das Gewand der Priesterinnen trug. Sie überließ es Marpessa, in den Kisten zu wühlen und etwas Passendes auszusuchen. Als ihre Dienerin zurückkam, wünschte sie jedoch, sie hätte es nicht getan.
Marpessa hatte ein dunkelblaues Kleid ausgewählt, das man mit türkisfarbenem Garn bestickt hatte. An den Schultern wurde es von silbernen Spangen in der Form von Tauben zusammengehalten und der schmale Gürtel war mit stilisierten Weinblättern und Reben verziert.
Dieses Kleid hatte einst Polyxena gehört, bevor diese wie Kassandra in den Dienst der Göttin Athene getreten war.
Dennoch ließ sich Kassandra von Marpessa einkleiden, stumm und willenlos wie eine Puppe. Als das Schiff in den Hafen einfuhr, ließ Agamemnon sie rufen, um mit ihm an der Reling zu stehen.
Kassandra gehorchte. Als sie aus dem Zelt trat, zog sie einen durchsichtigen Schleier tief übers Gesicht.
*
Die Menschen von Mykene empfingen ihren König mit Jubel. Hoch aufgerichtet schritt Agamemnon von seinem Schiff, gerüstet, wie es sich für einen siegreichen Feldherr gehörte, mit stolzen Augen und einen Goldreif auf der Stirn. Huldvoll winkte er den jubelnden Menschen zu.
Kassandra ging einige Schritte hinter ihm, wie er es befohlen hatte. Sie nahm den Trubel kaum war.
Fast schien es ihr, als ob ein unsichtbarer Schleier sie vom Rest der Welt trennte, ihre Sinne betäubte, alle Geräusche dämpfte, die Zeit nach einem anderen Rhythmus verstreichen ließ. Helfende Hände geleiteten sie durch die Menge und halfen ihr, auf einen wartenden Wagen zu steigen, ohne das Kassandra zu sagen vermochte, wem sie gehörten.
Sie stand mit gesenktem Kopf da, während sie durch die fremde Stadt fuhren, und durch den Schleier vor ihrem Gesicht konnte niemand bemerken, dass ihr Blick leer und abwesend wurde und ihr Geist sich davonstahl.
*
Sie wusste, wohin sie gehen musste.
Es gab keinerlei Orientierungspunkte in der Einöde, nur graue trockene Erde und einen genauso düsteren Himmel. Hätten die Götter beschlossen die Erdenscheibe umzudrehen, so hätte man hier nichts davon bemerkt, denn das Oben unterschied sich nicht vom Unten.
Die Frau ging langsam aber zielstrebig, obwohl sie selbst nicht zu sagen vermochte, wohin sie ging.
Plötzlich erschien ein Mann auf der kahlen Ebene vor ihr.
Sie blieb verwundert stehen und sah ihn näherkommen. Seine Kleidung strahlte stechend weiß an diesem grauen Ort, sein Haar schimmerte als fiele Sonnenlicht darauf und seine hellen Augen leuchteten. Er blieb stehen und musterte sie.
»Kassandra, mein schönes Kind, warum bist du nicht umgekehrt?«
Sie antwortete nicht, sah ihn nur fragend an.
»Die Götter haben andere Pläne für dich. Warum willst du diese Qual auf dich nehmen? Hast du nicht genug gelitten? Es ist sinnlos, was du tust, du kannst den Göttern nicht trotzen.«
»Ich werde nicht länger ihr Spielzeug sein«, sagte sie
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