STYX - Fluss der Toten (German Edition)
hatte und ihm einen Sohn, Aeneas, geboren hatte. Kassandra wusste nicht, ob sie diese Geschichte glauben sollte. Sicherlich war Anchises ein schöner Mann, obwohl er schon ein stattliches Alter erreicht hatte und sein Rücken zunehmend steif von einer Krankheit wurde. Und auch Aeneas war ein schöner Mann musste sie sich eingestehen, als sie ihn von der Seite beobachtete. Sein Gesicht war fein geschnitten, mit ausgeprägten Wangenknochen, dunklen Augen und langen schwarzen Wimpern, die an jedem anderen Mann weibisch ausgesehen hätten. Ihm jedoch verliehen sie eine ruhige Sanftheit und einen klugen, nachdenklichen Blick. Seine Haut war von der Sonne gebräunt und bei jedem Schritt konnte sie das Spiel der Muskeln an seinem Rücken und seinen Beinen durch sein Gewand hindurch beobachten. Nicht umsonst galt Aeneas nach Hektor als Trojas stärkster und tapferster Krieger. Sowohl sein Erscheinungsbild als auch seine erhabene Art waren für viele ein Beweis seiner Göttlichkeit. Doch Kassandra war der Meinung, dass die Leute in zu vielen Dingen eine Einmischung der Götter sahen.
»Gleich sind wir oben«, riss Aeneas Stimme sie aus ihren Gedanken.
Als sie ankamen war Kassandra überrascht, dass ihr Atem nicht schneller ging und ihr Herz nicht schmerzhaft pochte. Nicht einmal das Ziehen in den Waden, das sie sonst sogar beim Aufstieg zum Tempel der Athene in Troja überkam, war zu spüren.
Aeneas lachte. »Für eine Dienerin der Götter seid Ihr gut zu Fuß!« Er trat an ihre Seite und gemeinsam blickten sie über die Wiesen und Wäldchen, die sich tief unter ihnen erstreckten, und über die weite Ebene bis zum Meer, das als leuchtendes Band in der Ferne sichtbar war.
»Man sagt, hier sei mein Vater meiner Mutter begegnet«, sagte Aeneas leise.
»Aphrodite?« Kassandra konnte spüren, dass er nickte, ohne sich zu ihm umdrehen zu müssen.
»Ich kann verstehen, dass sie sich in ihn verliebt hat, an einem Ort wie diesem.«
Wieder sprach er sehr leise und einem unwiderstehlichen Drang folgend, wandte Kassandra sich zu ihm um. Sein Gesicht war näher, als sie gedacht hatte. Und als sie seinen Atem an ihrer Wange spürte, glaubte sie die unerbittliche Hand der Götter zu spüren, die an diesem Ort so stark waren und sie zwangen, den nächsten Schritt zu tun.
Kassandra sah in Aeneas dunkle Augen und küsste ihn.
*
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war.
Sie saß am Ufer eines träge dahinfließenden Flusses.
Als sie sich zögerlich umdrehte, sah sie weit hinter sich die Flammenwand, die sich über dem Phlegethon in den Himmel emporhob. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie schrecklichen Durst hatte. Ihre Lippen waren rissig, die ausgedörrte Zunge fühlte sich fremd und viel zu groß für ihren trockenen Mund an.
Sie ging zum Ufer hinunter und watete einige Schritte in den Fluss hinein. Er war flach und das Wasser reichte ihr kaum bis über die Knie, dennoch war es dunkel und undurchsichtig wie ein tiefer See. Mit beiden Händen bildete sie eine Schale, schöpfte etwas Wasser und trank gierig davon. Kühl rann es ihre Kehle hinab, viel erquickender als jedes andere Wasser, das sie je getrunken hatte. Als ihr Durst gestillt war, setzte sie sich ans Ufer. Sie wusste nicht, was sie nun tun sollte. Eine unerklärliche Traurigkeit überkam sie. Plötzlich rannen Tränen über ihre Wangen und sie musste schluchzen, ein Laut, der sich mit dem leisen Plätschern des Wassers vermischte. Rasch wischte sie die Tränen fort. Als sie die Hände vom Gesicht nahm, sah sie, wie bleich ihre Finger waren, weiß wie die Augen blinder Fische, beinahe durchsichtig. Ihre Beherrschung fiel endgültig in sich zusammen. Sie fing an zu weinen. Weinte um Troja, um all die Menschen, die in einem zehn Jahre dauernden Krieg gestorben waren, um ihren Vater und ihre Mutter, um Krëusa, Helenos, die kleine Polyxena, um ihren Bruder Hektor und seinen Sohn, um all ihre Brüder und Schwestern, die entweder tot oder in Gefangenschaft geraten waren, sogar um Paris. Sie weinte um all die griechischen Soldaten, deren Mütter und Ehefrauen vergeblich auf ihren Heimkehr warten würden, um die blühenden Landschaften ihrer Kindheit, die in Feuer und Blut ertränkt worden waren. Sie weinte um Aeneas, von dem sie nicht einmal wusste, ob er noch am Leben war.
Doch am meisten weinte sie um sich selbst. So unendlich viel hatte sie verloren. Im grauen Zwielicht der Unterwelt weinte sie um ihr verlorenes Leben und ihre Tränen vermischten sich mit dem dunklen Wasser
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