Suche nicht die Suende
unfaire Gegner erzählen konnten. Sie würden gutmütige Spötteleien austauschen, die ihrem Revanchekampf morgen etwas Würze hinzufügten. Gern hätte Alex eine Runde ausgegeben – aber, gottverdammt, er musste sich jetzt nicht nur Barrington an die Fersen heften, sondern auch einer naiven Erbin und ihrer hohlköpfigen Anstandsdame.
Er verfluchte die Erfindung des Telegramms.
Alles Leben der Welt wimmelte auf den Boulevards und drängelte sich unter den Fliederbäumen, die in voller Blüte standen. Auf den grünen Bänken, die den Bürgersteig säumten, saßen Dandys in weißen Mänteln mit Pelzkragen und rauchten Zigaretten, wobei sie lässig auf ihre breiten Schnurrbärte achteten. Elegant gekleidete Damen sprangen furchtlos aus Omnibussen, und Dienstboten eilten in Erledigung ihrer vielfältigen Aufgaben vorbei – Nannys führten kleine Jungen in samtenen Knickerbockern und Ärmelmanschetten aus belgischer Spitze spazieren; Hausmädchen wurden von getrimmten Pudeln hinter sich hergezerrt, die sich auf die Olivenhändler stürzten und die Nelkenverkäuferinnen dazu brachten, aufzukreischen und zur Seite zu springen. Jeder Laternenpfahl war mit bunten Programmzetteln beklebt, und der Junge am Zeitungsstand schrie mit einer Stimme, die längst schon heiser geworden war, unablässig die Schlagzeilen aus.
Unter der gestreiften Markise eines bezaubernden kleinen Cafés saß Gwen, nippte an einem Glas Wein und betrachtete fasziniert ihre Umgebung. Zwei Mal hatte sie Paris bereits besucht, aber bei diesen Aufenthalten hatte sie nichts von dem gesehen, was sie jetzt sah. Ihre Vormittage waren von den dunklen Gängen des Louvre verschluckt worden, und ihre Nachmittage hatte sie mit Anproben bei Laferrière, Redferns und Worth verbracht. Gestern hatte Elma darauf bestanden, dass sie den Abend damit vergeudeten, in einer dunklen kleinen Loge in der Oper zu sitzen. Aber die Wahrheit über Paris war an diesen Orten nicht zu finden. Die Wahrheit befand sich hier, sie paradierte zu ihrer Unterhaltung vorbei, während der Gentleman am Nebentisch seinen Curaçao trank und sie keines Blickes würdigte. Der Kellner hatte ihr sogar Absinth angeboten!
Gwen fühlte sich außerordentlich zufrieden mit sich selbst. Ihr Baedeker verkündete, dass die Cafés auf der Südseite der Boulevards für Ladys geeignet wären, aber der Autor hatte bei dieser Empfehlung gewiss nicht angenommen, dass sie ihren Wein
ohne
die Begleitung einer Anstandsdame trinken würde.
Lächelnd sah sie wieder in die Zeitung, die aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch lag.
Galignani’s Messenger
druckte täglich eine Liste englischer Neuankömmlinge in Paris ab; jeweils an den Freitagen wurde diese Liste erweitert, um bemerkenswerte Abreisen zu anderen Orten Europas bekannt zu geben. Ein erstes Darüberschauen hatte keinen Hinweis auf Thomas’ Namen gebracht. Vermutlich weilte er noch immer in der Stadt. Aber wo er sich aufhalten könnte, war bislang ein Rätsel geblieben. Ihr Portier im
Grand Hôtel du Louvre
hatte in ihrem Auftrag diskret Erkundigungen angestellt, deshalb wusste sie, dass er dort nicht logierte, ebenso wenig im
Maurice,
im
Brighton,
dem
Rivoli
oder dem
Saint James and Albany
. Er hatte nicht einmal Halt gemacht, um im
Richard-Lucas
zu speisen. Für einen Engländer erwies sich Thomas als bemerkenswert unberechenbar.
»Amüsierst du dich?«
Sie fuhr herum, das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
Was um alles in der Welt …?
»Alex!«
»Der und kein anderer«, sagte er. Dabei machte er den exzellenten Eindruck eines wohlhabenden Pariser Bürgers: grauer Anzug, graue Weste, grauer Filzhut, Handschuhe aus grauem Wildleder – sogar die Halsbinde war grau. Nach dem Vorbild der Einheimischen trug er sie sehr leger gebunden. Er sah nach Geld und äußerst kultiviert aus – und, dank der dunklen Schatten unter seinen Augen, obendrein äußerst sündig: ein Mann, der die Nacht ebenso ausgiebig genoss wie den Tag.
Er zeigte auf den leeren Stuhl ihr gegenüber. Sie nickte. Was sonst sollte sie tun?
Während er sich setzte, zwangen die eng stehenden Tische sein Knie gegen ihre Röcke. Er warf ihr ein überraschend freundliches Lächeln zu. Vielleicht wechselte er seine Laune mit dem Land, in dem er sich aufhielt, ebenso wie seine Garderobe. Gwen versuchte vergeblich, den Blick von seiner Kehle abzuwenden, auf die sie wie gebannt schaute. Seit ihrer Ankunft gestern hatte sie wohl hundert Gentlemen gesehen, die ihre Halsbinde auf diese Weise getragen
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