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vor fünfzehn Jahren ums Leben gekommen waren. Im Laufe der Jahre war sie offenbar über die größte Trauer hinweggekommen. Aber sie sprach nur selten über die schrecklichen Stunden, in denen sich Verzweiflung und Hoffnung miteinander vermischt und sich gegenseitig hochgeschaukelt hatten. Drei Männer starben unter dem Überhang, der auf die Grubenwehr hinabgestürzt war. Zwei Männer lagen hinter dem Steinschlag, verbrannt und tot, ein Anblick, der jedem lebenden Menschen erspart bleiben sollte.
Später wurden Fragen laut hinsichtlich der unverantwortlichen Gefahr, der sich die Rettungsmannschaften im Berg aussetzten. War es das wert, dass drei Männer starben, um einen zu retten? Doch die Kumpel zweifelten keine Sekunde daran. Das hatte etwas mit einer Abmachung zu tun, die niemand außerhalb der Zeche verstand. Tagein und tagaus gingen sie zur Arbeit in den Berg. Sie schwiegen über ihre Angst vor Unglücken, über das Knacken im Hangenden, über die Angst, die ihnen wie ein weiterer Kumpel während der Schicht folgte. Und sie hielten aus einem einzigen Grunde aus – sie wussten, dass ihre Kumpel niemals einen der ihren drinnen in den dunklen Stollen liegen lassen würden, wenn es nur irgendwie möglich war, ihn herauszuholen.
Nur ein einziger der eingeschlossenen Kumpel kam lebendig heraus – Per Leikvik. Sein Gesicht und ein Arm waren so verbrannt, dass stellenweise nur noch Blut und rotes Fleisch übrig waren. Das eine Bein war im Ober- und Unterschenkel so oft gebrochen, dass die Ärzte, die ihn im Krankenhaus von Tromsø operierten, stundenlang nichts sagten. Doch er lebte. Sein Hinterkopf war teilweise von einem herabfallenden Felsblock zertrümmert.
Er lag mehrere Wochen im Koma. Gehirnspezialisten hatten seinen Arbeitskameraden erklärt, dass er wahrscheinlich nicht überleben würde, auch wenn er häufig lächelnd dalag, so gut, wie er es mit dem verbrannten Gesicht konnte. Doch eines Tages hatte er die Augen aufgeschlagen und angefangen zu sprechen. Niemand verstand viel von dem, was er sagte. Er stotterte plötzlich heftig. Und diejenigen seiner Freunde, die überzeugt davon waren, das würde vorübergehen, irrten sich.
Er bekam wieder Arbeit bei Store Norske. Die Direktion ging davon aus, dass er nicht wieder in die engen Stollen hinunter wollte, deshalb boten sie ihm einen Job als Mädchen für alles über Tage beim Schacht 7 an. Im Laufe der Jahre vergaßen viele, dass Per Leikvik früher einmal ein tüchtiger Bergmann gewesen war, respektiert und beliebt. Es geschah immer häufiger, dass er wie der Dorftrottel behandelt wurde. Das vernarbte Gesicht und der halb hinkende, halb schleppende Gang machten es nicht besser. Er konnte so manch einem schnell Angst einjagen, noch schneller konnte man sich über ihn lustig machen. Auch konnte er nicht so reden, dass die Leute ihn verstanden.
Doch jedes Mal, wenn Per Leikvik Trulte auf dem Weg vom oder zum Marktplatz begegnete, trat er zur Seite, zog seine dicke, abgewetzte Pelzmütze vom Kopf, ganz gleich, wie kalt es war, und blieb stehen, mit geradem Rücken, bis sie vorbei war. Trultes Mann war der Erste, der unter der Steinlawine begraben wurde, als die Grubenwehr sich an den Ort vorgekämpft hatte, an dem Per Leikvik mit schrecklichen Schmerzen und großen Verbrennungen lag.
Als die kleine Gruppe gutgekleideter Damen an der Straße ankam, stand dort einer der beiden Taxibusse von Longyearbyen bereit und wartete auf Trulte. Sie wohnte ganz oben in Blåmyra mit einem fantastischen Blick über das ganze Longyeartal. Die übrigen Damen blieben stehen und schauten den roten Rücklichtern des Taxis nach, das im aufwirbelnden Schnee verschwand. Frau Bergerud hatte mit keiner Miene gezeigt, dass sie mitfahren wollte, obwohl sie doch in der Nähe von Trulte wohnte.
»Warum lebt sie eigentlich immer noch oben in Blåmyra?«, fragte Frau Bergerud in die Luft, ohne jemanden direkt anzuschauen. »Da wohnen doch nur Kumpel und Junggesellen. Dauernd Krach und Besäufnisse. Im Frühling werden wir näher ins Zentrum ziehen. Wir haben eine Wohnung in einem der neuen Häuser bekommen.«
Keine der anderen Frauen antwortete. Doch sie dachten sich das ihre. Ach, will sie umziehen? Wo sie sich dann wohl treffen – wenn es noch bis zum Frühling anhält. Und wo treffen sie sich jetzt eigentlich? Jedenfalls nicht in Blåmyra, sonst hätte Trulte sie bestimmt gesehen. Nein, Frau Bergerud und der junge Polizeibeamte hatten wohl einen Ort gefunden, der vor neugierigen
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