Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Abend keine Leiche brauchte, sondern ein Bett. Ob er so liebenswürdig wäre, durchs Bad in mein Zimmer zu gehen, um mir von innen zu öffnen. Ich nannte meinen Namen, er stünde – sofort nachprüfbar – auf meinem Rucksack.
Meine Strategie erwies sich als eindeutig falsch, wahrscheinlich hielt mich der Mensch jetzt für einen Wahnsinnigen, einen wahnsinnigen Killer: »Are you gone nuts?«, war die korrekte Antwort, denn nur Verrückte konnten glauben, dass ein Wildfremder einem anderen Wildfremden in diesem Land zu dunkler Stunde die Tür öffnen würde.
Brando fiel mir ein. Wäre ich Stanley K. gewesen, dann hätte ich augenblicklich die Tür eingetreten und wäre fünf Minuten später mit einem coolen Lächeln eingeschlafen. Nachdem ich ausgeträumt hatte, eilte ich ins Zentrum und suchte die nächste Polizeistation. Da sich viele Drecksäcke hier herumtrieben, gab es viele Polizeistationen. Als ich die nächste gefunden hatte und davorstand, durfte ich nur über eine Sprechanlage mein Anliegen vortragen. Aus Sicherheitsgründen.
Das klappte, Officer Ted T. und ich fuhren Richtung verriegelte Unterkunft. Mit einer kleinen Verzögerung beim Start, denn T. T. war so rund, dass er zuerst den Fahrersitz bis zum Anschlag zurücksetzen und die Rückenlehne flacher stellen musste, um vollständig hinters Lenkrad rollen zu können. Aber der Dicke war fix, als wir ankamen, raunzte er zweimal durch die Tür meines Nachbarn, informierte ihn, dass die Polizei da war, und warf die Sirene an. Fünf Minuten später lag ich tatsächlich in meinem Bett. Ja, lächelnd. Nicht ohne vorher ein Wort der Entschuldigung an denjenigen zu richten, der mich für seinen Mörder gehalten hatte.
DAS CRACKHOUSE
Achtzehn Tage lebte ich in einem Crackhouse. In East New York , einem Viertel von Brooklyn. Ich kam zur rechten Zeit, ein schlechter Ruf verfolgte den Stadtteil. Im Jahr davor verzeichnete er die höchste Mordrate weit und breit, plus höchste Totschlagrate. Früher blitzte der Ort. Vor Sauberkeit, vor Betriebsamkeit. Früher war vor hundertfünfzig Jahren, als europäische Immigranten hierher auswanderten, Iren, Deutsche, Italiener, Polen. Strebsam war es, puritanisch, schön gottesfürchtig und scheinheilig. East New York wollte strahlen wie New York, wie Manhattan, das im Westen lag.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es eng, andere »Immigranten« tauchten auf. Der Schwarze Mann und der nicht minder geschmähte Puertoricaner zogen ein. Und die Armut. Der Weiße Mann ergriff die Flucht und die »Niggers« und die »Spicks« (»no spick English«, eine Anspielung auf die mangelhaften Sprachkenntnisse der Latinos) führten Krieg. Damit er nicht aufhörte oder damit man ihn aushielt (zwei von vielen Gründen), wurde Anfang der achtziger Jahre Crack erfunden. Der Billigrausch fürs Volk. Die reichen Weißen snifften Kokain, die armseligen Nicht-Weißen rauchten Crack. Die meisten Verbrechen hier, so konnte man von der Polizei erfahren, waren »drug related«, hatten mit Drogen zu tun.
Bevor ich hundert Mal gelogen und Hunderte von Dollars an einen Mittelsmann gezahlt hatte, damit er mich in ein Crackhouse schleuste, hatte ich immer dieselbe Botschaft in den Medien gelesen: »Einmal inhalieren ist gleich einmal lebenslänglich abhängig.« Nach der (eigenen) Erfahrung war offensichtlich, dass alle, die diesen Warnschrei verbreiteten, noch nie das Kribbeln erlebt hatten. Ich war damals für ein deutsches Magazin unterwegs und hatte gleich angekündigt, dass ich den Stoff selbst probieren würde. Als unverhandelbare Bedingung für den Auftrag. Ich wollte nicht abschreiben von jenen, die von anderen abschrieben. Ich wollte es leben. Wie darüber Auskunft geben, ohne es zu schmecken? Crack, das Teufelszeug.
Irgendwann kam ich rein. Natürlich nicht als Reporter, sondern als leicht bizarrer Typ, der sich unbedingt unter Huren, Kriminellen und ähnlich Verwirrten einquartieren wollte. Bevor sich die mit einem Pfosten verbarrikadierte Tür öffnete, fand ein dreistündiges Gespräch mit dem Boss der Bude statt, mit »Tiger«. Außerhalb. Er wollte mich aushorchen, meinen Pass sehen, sicher sein, dass ich nicht für die Polizei arbeitete, nicht für eine Gang, dass ich eben ich war, ein »Philosophie-Professor«, ein Deutscher, ein argloser Ausländer. Das dauerte keine zwanzig Minuten, der Rest der Zeit verging mit Zuhören von Tigers turbulenter Lebensgeschichte. Mit elf Jahren (und ein paar Monaten) machte er seine erste sexuelle
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