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Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs

Titel: Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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herausrückte. Und so fingen die Beschimpfungen an, Lappalien endeten in einer Wortschlacht, jede nannte jede grundsätzlich: »You motherfucker-undercover-crackhead!« Das klang nicht unwitzig, wobei nie deutlich wurde, ob sie sich bewusst waren, dass sie sich mit einem Ausdruck schmähten, der auf sie alle zutraf. Denn nur motherfucker-undercover-crackheads lebten hier. Okay, undercover war hier niemand. Schon lange nicht mehr. Das dramatische Wort hatten sie sicher des Rhythmus wegen hinzugefügt. Sie schrillten so lange, bis Tina dazwischenbellte. Ruhe trat ein, kurzfristig.
    Die abstruseste Szene passierte, als Barbi eines Mittags auf dem Fußboden ein zerknäultes Klopapier entdeckte. Stark riechend, da schon benutzt. Und sofort Peggy, die direkt daneben lungerte, in die Schusslinie geriet. Sie musste das »monster pig« sein. Und die verdächtigte Monstersau, die Exboxerin, ging sofort zum Angriff über, fuhr mit einem Kleenex durch ihre Unterwäsche, hielt das fleckenlose Papier triumphierend in die Höhe und verkündete wutschnaubend: »Listen, bitch, my ass is clean!«
    Tiger war mir wohlgesonnen. Ich durfte sogar in sein Zimmer. Ich könnte nicht sagen, warum. Weil er mich für weniger verkommen hielt? Weil ich noch zuhörte, wenn er von seiner Vergangenheit berichtete? Natürlich war ich für ihn ein »white crackhead«, ich hatte ja mit keiner Silbe angedeutet, dass ich über ihn schreiben würde. Wir saßen auf der Couch, redeten und sahen amerikanisches Fernsehen. Bis er zu schluchzen anfing. Manchmal mit, manchmal ohne Nadel. »Schau doch, gerade läuft so eine sentimentale Familienscheiße und ich weiß wieder, dass mein Leben kaputt ist.« Er heulte über das Dutzend abwesender Kids, seiner Kids, alle fort von ihm, verteilt auf Großmütter, Zuchthäuser und die Straße. Ein paar Mal legte ich den Arm auf seine Schulter und tröstete ihn. Eine seltsame Nähe war zwischen uns entstanden. Tiger war ein Schweinehund und ich mochte ihn. Vielleicht aus Dankbarkeit. Weil er etwas aushalten musste, was mir erspart blieb.
    Nach zweieinhalb Wochen war ich davon. Auch um heil zu bleiben. Mehrmals wurde in den letzten Tagen mit Waffen gefuchtelt. »Just for fun.« Von Gästen, denen der Rausch den größeren Teil ihrer Zurechnungsfähigkeit geraubt hatte. Um mir problemlos den Rückzug zu sichern, lud ich jeden der dreizehn Anwesenden zu einer vollen Crackpfeife ein. Damit alle happy waren und kein verzweifelter Schnorrer mir den Ausgang versperrte. Tiger versorgte mich noch mit einer Eskorte, zwei runners, die den sichersten Weg ins Zentrum wussten. East New York war hässlich und lauernd.
    Am frühen Abend ging ich noch zu den Narcotics Anonymous . Wie bei den anonymen Alkoholikern kamen hier jene vorbei, die mit ihrer Süchtigkeit noch kämpften oder den Teufel schon besiegt hatten. Zumindest für eine gewisse Zeit. Wie »Eddy« (jeder sagte nur seinen Vornamen), der von seinen Zwischenstationen in Gefängnissen und psychiatrischen Kliniken erzählte, von Messern und Messerstechereien, von seinen hundertundeins Versuchen, dem Ruin zu entkommen. Zuletzt sagte er: »I am a recovered addict and I have three days short of three months.« Noch drei Tage fehlten ihm, dann war er drei Monate lang sauber. Alle klatschten begeistert. Ich kam auch dran, jeder musste teilnehmen. Und so beichtete ich nichts als die Wahrheit: »My name is Andrew and I have been clean for the last three hours.« Ich dachte, sie würden lachen, nein, sie applaudierten auch jetzt und waren begeistert. Wie bei Eddy. Vielleicht waren drei Stunden für viele eine Traumzeit.
    Selbstverständlich besuchte mich nach meiner Rückkehr nach Paris der »eisige Truthahn«, kam die nächsten Nächte die Gänsehaut über mich, wie über jeden, der intensiv Drogen konsumierte und plötzlich damit aufhörte. Und selbstverständlich wurde ich nicht crackhörig und crackblöd, verfiel nie und keinem Tag der Sucht. Ich war ja nicht mehr neunzehn, nicht arbeitslos, nicht weltverloren. Ich war ein erwachsener Mann, und ich übte einen Beruf aus, den ich liebte, Zustände, die ungemein stabilisierten. Zudem hatte ich bereits eine Handvoll Reportagen über jene geschrieben, die nicht rechtzeitig vor dem Abgrund innehielten, jene, die blindlings hinter der letzten Haltestelle – the point of no return –ins Bodenlose stürzten. Schon damals, beim Anblick der Abkratzer, hatte ich begriffen, dass ich süchtig nach Leben war. Und mich nie nach dem Abkratzen und

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