Sucht nach Leben - Geschichten von unterwegs
Erfahrung. Mit einer Fünfzehnjährigen. Als »soft rape« bezeichnete er später die Begegnung. Auch sonst stimmte sein Leben mit dem Ruf überein, der ihm vorausging. Tiger war ein Bully, ein Schläger, ein Messerstecher, ein Plünderer, ein Dealer, ein einfacher Killer, ein achtfacher Zuchthäusler, ein zwölffacher Vater, ein auf seltsame Weise – und ich würde es bald wissen – plötzlich jähzorniger, plötzlich tränengerührter Mensch.
Endlich wurde der Balken zur Seite geschoben und ich durfte eintreten. Ich war der einzige Weiße unter den Schwarzen. Und ich war willkommen, denn sie waren abhängig und pleite, und ich war es nicht und hatte Geld. Auch das war mit meinem Auftraggeber vereinbart: dass er meinen Drogenkonsum bezahlen würde. Quittungsfrei. So begann zehn Minuten später die Feuertaufe. Ich kaufte eine Ration und rauchte. Wie die anderen. Somit lieferte ich den endgültigen Beweis, dass ich »clean« (sic!) war, sprich, nicht als V-Mann für das New York Police Department arbeitete. Ab diesem Augenblick war ich strafbar wie sie. Und akzeptiert.
Und ich war eingeweiht, gehörte ab jetzt zu jenen, die »wussten«: dass bisher kein Stoff im Universum entdeckt wurde, der blitzschneller unter die Schädeldecke raste, der radikaler das überwältigende Gefühl eines schwerelosen Hirns verschaffte. Die wussten, dass der erste Zug – it cracks, es knackt – das erregendste High versprach, die »tingling sensation«, jenes Kribbeln, jenen aberwitzigen Zustand vollkommener Leichtigkeit. Einmal ziehen und die Welt war weg, ihr Gewicht, alle Last. Einmal damit vertraut erkannte man das verheerend schöne Gift an seinem Ton.
Die siebzig Quadratmeter boten vieles. Eine Wohnung, ein Eroscenter, ein Asyllager, ein Waffenversteck, eine »shooting gallery« für Heroinsüchtige, ein an 365 Tagen rund um die Uhr betriebsbereites Crackhouse. Und eine Kommandozentrale für Tina, Tigers Frau, die Chef-Dealerin. Sie versorgte die »runners«, die jungen Kerle, die anpochten, auch um fünf Uhr morgens, das Codewort murmelten, reinhuschten, ihren Verdienst ablieferten und von Tina mit neuen Crack-Portionen zurück auf die Straße geschickt wurden. Um wieder zu rennen und die Ware loszuwerden.
Andere kamen und blieben. Für eine halbe, für eine knappe Stunde. Eben Stammkunden, die sich ins Sperrmüll-Wohnzimmer setzten, bei Tina ein »rock« bezahlten – eine Portion sieht aus wie ein winziger Fels – und zu paffen anfingen. Zusammen mit uns, die wir hier wohnten, mehr oder weniger permanent. Nur Tiger blieb fern, er hasste Crack, er bevorzugte »speedballing«, vermischte Kokain und Heroin, erhitzte das Ganze, zog es in eine Spritze und verpasste sich einen Schuss. Hinterher fing er sofort zu schwitzen an, ließ die Nadel an der Vene hängen und jagte mit einem Küchenhandtuch nach Fliegen. Ein Ritual, das er in vierundzwanzig Stunden vier Mal wiederholte. Ließ die Wirkung nach, dann vergaß er die Fliegen und begann zu brüllen. Auch das regelmäßig. Denn irgendetwas, irgendwer nervte ihn.
Die Frauen waren eindeutig in der Überzahl. Sie hatten es leichter, an Geld ranzukommen. Beschaffungsprostitution war ihr Hauptberuf. Als Nebenverdienst zum »welfare money«, der Stütze. Zwei stellten sich vor die Tür, ein Auto hielt neben dem Bürgersteig, eine schrieb – als Sicherheitsmaßnahme – das Kennzeichen auf, die andere nahm auf dem Beifahrersitz Platz, fuhr zwei Ecken weiter, verpasste einen Blowjob und stieg fünf Dollar reicher wieder aus. Exakt der Preis einer Ladung Crack. Blasen und rauchen. Dann auschillen. Dann wieder ins Freie. Auf der Suche nach Freiern. So verging die Zeit.
Illustre Damen. Wer sich an den Umgangston gewöhnt hatte, der fühlte sich heimisch, gehörte zur »family«. Wie Pat, genannt »the breeder«, der Brüter. Achtundzwanzig Jahre, acht Kinder von acht Vätern, gerade im neunten Monat schwanger, sprich, ein weiteres »crack baby« für Amerika. Die Folgen für das Neugeborene waren absehbar, zur Wahl standen: schwere Atembeschwerden, Spasmen, Nierendefekte, körperliche Deformationen. Pat kassierte Sozialhilfe, dealte nebenbei, stellte auch jetzt noch ihre primären und sekundären Geschlechtsmerkmale gegen Entgelt zur Verfügung. Ich wollte wissen, ob ein dicker Bauch die Kundschaft nicht abschreckte, und hörte den bemerkenswerten Satz: »Pregnant pussy, good pussy.«
Birdy war die Haussklavin. Zahnlos, haarlos, eine sechzigjährige Haut auf einem fünfundvierzig
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